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Dieses Buch gehört meiner Mutter

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Titel: Dieses Buch gehört meiner Mutter Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Erich Hackl
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Teufel erschienen wär. Bleib doch bis Sonntag. Gehst mit in die Kirche. Er singt im Hochamt. Steckst ihm diesen Brief von mir zu.«
    [74]  Ich wäre gern geblieben, über den Sonntag hinaus.
    Ich wär als Dienstmädchen gegangen wie die Minerl.
    Was ich nicht wußte, hätte sie mir schon beigebracht.
    »Willkommen in Wien«, hatte die Gnädige meiner Tante gesagt.
    Es war das erste Mal in meinem Leben, daß mich jemand nicht duzte.
    [75]  Die gute Luft! Das war alles,
    was ihm dazu einfiel.
    Sein übliches Schimpfwort,
    auf störrische Weiber gemünzt.
    Und die Drohung,
    mich nicht wieder fortfahren zu lassen.
    Wir hatten Pflöcke eingeschlagen
    für den Kälbertrieb,
    auf der Wiese neben dem Haus.
    Ich hatte ein wenig vorgearbeitet
    und mich, müde und naß,
    auf einen Stock gesetzt.
    Da ging mir wieder durch den Kopf,
    was ich in Wien gesehen und gehört hatte.
    Die blühenden Kastanienbäume,
    die Akrobaten und Löwen,
    der Kuß, der den feschen Kooperator verwirrte.
    Der Trubel bei der einen Herrschaft,
    Ruhe und Anstand bei der andern.
    Das war meinem Vater nicht recht:
    wenn jemand mit offenen Augen träumte.
    Ich hatte gar nicht bemerkt,
    daß er schon zu mir aufgeschlossen hatte,
    so versunken war ich. So verzückt.
    [76]  »Was sinnierst denn«, fragte er mißtrauisch.
    Ich konnte nicht anders, es mußte heraus.
    »In Wien«, sagte ich, »ist es grad wie im Paradies.«
    »Du Blunzn du!«
    Er ließ mich nicht ausreden,
    fand aber selbst keine Worte,
    bis auf die von der frischen Luft
    bei uns auf dem Land.
    »Und in Wien staubt’s fürchterlich.
    Da ist jeder zehnte krank!«
    Bei uns bald jeder fünfte,
    nur schaut keiner drauf.
    Ich dachte es nur, ich sagte es nicht.
    Ich war noch nicht einmal siebzehn,
    trug Zöpfe, lief barfuß, betete dreimal am Tag
    und ehrte den Vater in Wort und Werk.
    Dagegenreden, wie meine Schwester,
    übte ich erst nach seinem Tod.
    [77]  Der eine war auf der Pirsch,
    hörte ein Rascheln vor sich,
    dachte an den Rehbock,
    witterte scharfen Geruch,
    hob den Stutzen und schlich näher:
    bei Neumond, gegen den Wind,
    auf die kleine Lichtung im Aubichl,
    direkt gegenüber dem Predigtberg,
    auf dem eine Vaterländische Feier
    stattfinden sollte unter Beteiligung
    aller Gendarmen und Revierjäger.
    Ansprache des Obmannes
    des Katholischen Ortsvereins,
    Absingen des Dollfußliedes,
    Abbrennen des Kruckenkreuzes.
    Der andere hatte Petroleum
    auf fünf Bretter geschüttet,
    die um einen Pfosten genagelt waren
    und mit Reisigbündeln umwunden.
    Dann ein Streichholz angerieben
    und schnell aufs Reisig geworfen.
    Als das Hakenkreuz in Flammen aufging,
    standen sie einander gegenüber. Reglos,
    wie angewurzelt, eine Schrecksekunde lang,
    auf doppelter Armlänge und ertappt
    auf frischer Tat vom jeweils anderen.
    Dann hasteten sie davon, in dieselbe Richtung,
    aber auf unterschiedlichen Steigen:
    [78]  der Mühlbacher Toni mit dem rußigen Gesicht,
    der Kastelhansen Franzl mit dem leeren Kanister.
    Einander entkommen, aneinander gefesselt:
    weil sie nun voneinander wußten,
    was jeder für sich behalten mußte:
    das Wildern und das Nazizündeln.
    Beide schwiegen sie wie ein Grab.
    Der Mühlbacher drei Tage lang,
    dann erzählte er es meinem Vater.
    Der Kastelhansen zwei Tage länger,
    dann beichtete er es dem Pfarrer.
    Das Petroleum stammte aus unserem Faß.
    Eine Dirn hatte es heimlich abgezapft.
    [79]  »Stell dir vor«, sagte meine Mutter,
    »jetzt gehören wir den Deutschen.«
    Die alte Fesslin war außer sich.
    »Der Hitler hat uns ja direkt gestohlen.
    Direkt gestohlen hat uns der Lump!«
    Mehr habe ich nicht behalten vom Umsturz.
    Ich seh nichts flattern, ich hör niemand schreien.
    Ich könnte nicht sagen, wo das Stimmlokal war.
    Die Urne, in die sie die Zettel steckten. Die Zettel,
    auf denen der große Kreis anzukreuzen war.
    Ich erinnere auch diese Zeit noch in Farbe.
    Monate später ging ich in die Walleithen,
    das Gras wenden, das wir gemäht hatten.
    Da erst sah ich Kolonnen von Lastwagen fahren.
    Unter den Plachen lachende, winkende Soldaten.
    Sie warfen mir Zwieback zu, den ich nicht kannte.
    Ich verfütterte ihn als hartes Brot an die Ziegen.
    Während ich mich daran erinnere, in Farbe,
    kommen mir Vater und Bruder in den Sinn,
    wie der eine sich brüsk weggedreht hat,
    als der andere feldgrau fortgezogen ist,
    lachend, winkend in der Zwiebackkolonne.
    [80]  GERAUFT wurde bis zur Erschöpfung.
    Dann war der Anlaß meistens vergessen.
    »Den Blöchl haben sie

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