Diesseits Des Mondes
nicht von ihrem Platz. Sie begrüßte Sharon nicht, bot ihr auch keinen Platz an. Sie saß nur da, eine Hand am Halsband der Dogge, und sah Sharon an. Und plötzlich fiel Sharon ein, dass Alexander ihr im Valle Argentina erzählt hatte, dass Clarissa von der Heydte seine Stiefmutter sei. Die zweite Frau seines Vaters, die dieser zehn Jahre nach dem Tod von AlexandersMutter geheiratet hatte. Alexander hatte die Ehe des Vaters als unglücklich geschildert, seine Stiefmutter als eine gut aussehende, aber oberflächliche Frau beschrieben. Clarissa von der Heydtes Verhalten bewies Feindschaft. Sharon fühlte sich plötzlich ruhig und kalt. Was wollte diese frustrierte Blonde von ihr?
Entschlossen fragte Sharon: Warum wollten Sie mich sehen? Wo ist Alexanders Vater? Als Sie mich anriefen, sprachen Sie im Plural. Haben Sie da sich und den Hund gemeint? Wir wollten doch die Verlobte Alexanders wenigstens einmal sehen, nicht wahr, Cyrus. Alexanders Vater, den Sie so vermissen, würde Sie niemals empfangen, aber wirklich nicht.
Sharon hörte den Zynismus, mit dem die Frau »Verlobte« sagte, sie hörte das verachtungsvolle »aber wirklich nicht«. Sie sah die Leere im aufpolierten Gesicht der Frau, ja, Clarissa von der Heydte hatte sich aufpoliert für diese Szene, das schien Sharon klar. Das feine Blondhaar war geföhnt, die Augen und der schmale Mund waren sorgfältig gemalt. Aber es gab keinen Zweifel, dass Clarissa von der Heydte gemein sein konnte, dass sie es zumindest Sharon gegenüber war.
»Taphtaphija«, dachte Sharon »Taphtaphija«. Dieser Geheimname für Gott, diese Beschwörungsformel hatte sie schon als Schulkind fasziniert, wenn sie aus dem Talmud lasen. Taphtaphija: »Und wenn einer in den Krieg zieht und seine Feinde greifen ihn an, soll er diesen Namen aussprechen und er wird unversehrt bleiben.«
Sharon fragte Clarissa, die sie lauernd ansah: Warum hassen Sie mich? Sie mussten doch damit rechnen, dass Alexander sich irgendwann bindet?
O ja, meine Liebe, Clarissa sagte es theatralisch und betrachtete dabei ihre Nägel, o ja, meine Liebe, wir rechnen nicht nur damit, wir begrüßen es sogar, mein Mann und ich. Es kommt allerdings darauf an, wen Alexander uns bringt. Stripperinnen und Konkubinen hat es in der Familie von der Heydte allerdings bislang noch nicht gegeben.
Jäh spürte Sharon die Kälte in der Bibliothek, den Hass in den Augen der Frau. Spätestens, als ich dieses Haus sah, hätte ich umkehren müssen, sie sitzen doch alle in derart prächtigen Häusern, geschont von den Alliierten, die ihrer bedurften, weil sie ihre Sprache sprachen, weil sie die Fäden gesponnen hatten und sie nun weiter spannen, immer spinnen würden. Entnazifizierung? No Problem. Sie sind die Hüter, die Säulen der Gesellschaft, ihre Methoden sind fein, sie dinieren sogar wieder mit Juden, verleihen ihnen Preise, gehen sorgsam mit ihnen um, tanzen auf rohen Eiern, mühelos. Nur, wer ihnen in der Sonne steht ...
Die Tür fiel zu hinter Sharon, aber sie war nicht entlassen. Das Haus schien ihr Schmähungen nachzurufen, die in Sharon eindrangen, ihr die Haut wegätzten wie mit Salzsäure. Hatten sie es Alexander schon gesagt? Vielleicht hatten sie ihn noch nicht erreicht, so wie Sharon ihn derzeit nicht erreichen konnte, weil er in der Toskana herumreiste, Weingüter besuchte, Kaufverhandlungen führte. Erst am Freitag, an Rosh Hashanah, würde er gegen Abend zurückkommen. Sie, Sharon, war hilflos in ihre Lügen verstrickt. Ja, auch Verschweigen ist Lüge. Die Hoffnung, dass Alexander zuerst ihre, Sharons, Wahrheit erfahren könne, war Selbstbetrug, das wusste Sharon, doch sie wollte es nicht glauben. Vielleicht kam Alexanderzuerst zu ihr. Wenn Sharon ihre ganze Kraft auf diesen Wunsch konzentrierte, wenn sie Gott darum bat? Es stand doch geschrieben: »Denn der Herr, euer Gott, kämpft selbst für euch, wie er es euch versprochen hat«.
Sharon war nicht religiös erzogen worden. Wenn sie mit der Großmutter oder mit Ruth in die Synagoge gegangen war, dann den Verwandten zuliebe, dem Herden- oder Nesttrieb folgend. Großmutter war ein Familienmensch gewesen, Ruth ebenso, sie hatten an den Zusammenkünften der Familie in Beer Sheba und Haifa regelmäßig teilgenommen. Die Rituale der jüdischen Feste waren weniger ein Zugeständnis an die Religion gewesen, sondern mehr ein Teil des Zusammenlebens, an dem sie hingen. Vielleicht ganz besonders stark hingen, weil von Großmutters Familie niemand überlebt hatte.
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