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Diktator

Diktator

Titel: Diktator Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Stephen Baxter
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verschwamm ihr alles vor den Augen.

    Das Mädchen fasste sie an den Armen. »Na, na, immer mit der Ruhe. Kommen Sie mit und setzen Sie sich.« Sie führte Mary zu einer Bank; ein paar der Latten fehlten – vielleicht waren sie zu Feuerholz verarbeitet worden –, aber man konnte sich noch darauf niederlassen. Als Mary dort im grellen Sonnenschein saß, spürte sie, wie ihr die letzten Kräfte schwanden.
    Hilda war so hübsch, wie die Fotos hatten vermuten lassen, aber mit einem langen, recht ernsten Gesicht, einer kräftigen Nase und einem entschlossenen Zug um den Mund. Sie schien kein Make-up zu tragen; dieses leuchtend rote Haar, das unter der Mütze hervorquoll, war das Farbigste an ihr. »Was machen Sie hier, Mrs. Wooler?«
    »Mary. Nennen Sie mich Mary, um Himmels willen.«
    »Es ist wegen Gary, nicht?« Ihre Stimme hob sich. »Ist ihm was zugestoßen? Ich habe nichts mehr von ihm gehört, seit …«
    »Es gibt keine schlechten Nachrichten – nicht, dass ich wüsste.« Sie erzählte ihr, was sie im Kriegsministerium erfahren hatte.
    »Und darum sind Sie hergekommen.«
    »Ja. Das Problem ist, dass ich nicht weiß, was ich jetzt tun soll.«
    »Dann haben Sie Glück, dass Sie mich gefunden haben«, sagte Hilda mit fester Stimme. »Wir fragen meinen Vater.«
    »Ihren Vater?«

    »Sie werden schon sehen.« Hilda nahm Marys Hand, stand auf und führte sie von der Strandpromenade weg und in die Stadt hinein. Unterwegs warf sie jedoch einen Blick zu dem Arbeitstrupp hinüber, der sich noch mit dem Ballon abmühte.
    »Sind Sie sicher, dass Sie weg können ?«, fragte Mary.
    »Ach, die kommen auch ohne mich klar. Ist aber gar nicht so einfach. Wenn der Wind umschlägt, kracht einem ein Sack voller Wasserstoff mitten in der Stadt runter. Eine Kippe, und rabamm! Natürlich könnten wir WAAFs es auch allein schaffen, aber das würden die Männer nie zugeben.« Sie drehte die offene Hand und zeigte ihr Striemen, die wie Seilbrand aussahen. »Man nennt uns ›Amazonen‹, wissen Sie. In der Zeitung.« Sie lachte völlig unbekümmert.
    »Das ist wohl auch ein bisschen meine Schuld. Ich bin so eine Art Journalistin, eine Korrespondentin des Boston Traveller .«
    Sie machte große Augen. »Wirklich? Gary hat gesagt, Sie seien Historikerin.«
    »Von Beruf, ja. Ich … wir waren zufällig gerade hier, als der Krieg ausbrach. Da habe ich mich nach einer nützlicheren Tätigkeit umgesehen.«
    »Genauso wie Gary.«
    »Um die Wahrheit zu sagen, ich habe versucht, ihn davon abzuhalten, Soldat zu werden. Amerika ist schließlich nicht an diesem Krieg beteiligt.«
    »Wünschten Sie jetzt, Sie hätten sich mehr Mühe gegeben?«

    »Nein.« Mary überlegte. »Nein, ich bin stolz auf ihn. Er hat getan, was er für richtig hielt.«
    Hilda nickte. »Schauen Sie, da ist mein Dad.«
    Wie sich herausstellte, war ihr Vater Polizist, ein Constable in Uniform. An diesem Tag war er, die Gasmaske über der Schulter, beim Rathaus eingesetzt. Diverse Uniformierte eilten hinein und heraus; das Gebäude diente offenbar als eine Art Auskunftsstelle für die Evakuierungsoperation.
    »Dad!« Hilda lief die letzten paar Schritte auf ihn zu und schmiegte sich, plötzlich ganz mädchenhaft, kurz in seine uniformierten Arme.
    »Hallo, Liebes.« Der Vater nahm seinen schweren Bobby-Helm ab, und Mary sah ein kantiges Gesicht mit tiefen Falten und kurz geschnittene, mit Pomade geglättete, ergrauende Haare. Er musste Ende vierzig sein. Mary glaubte, etwas von seiner Tochter in ihm wiederzuerkennen; er musste einmal ein gut aussehender Mann gewesen sein. »Was ist denn los? Hast du deinen Spielzeugballon verloren?«
    »Es ist wegen Gary. Er ist wieder da, Dad …«
    »Vielleicht«, warf Mary ein.
    Der Vater musterte sie, überrascht von ihrem Akzent. »Und Sie sind?«
    Hilda stellte sie rasch vor.
    Der Vater schüttelte ihr die Hand; sein Griff war warm, fest und sicher. »Nennen Sie mich George.«
    »Mary.«
    »Ich habe wenig genug von Ihrem Sohn gesehen, bevor er eingeschifft worden ist. Aber er ist weggegangen,
um für eine gute Sache zu kämpfen. Und jetzt ist er wieder da, sagen Sie?«
    »Möglicherweise. Ich weiß eigentlich nur, dass Teile seiner Division zurückgebracht worden sein sollen. Ich habe aber keine Ahnung, wo ich ihn finden könnte.«
    George Tanner rieb sich das Kinn. »Die Evakuierung ist schon seit sechs Tagen im Gange. Überall in der Stadt sind zusammengeschossene Soldaten – ich möchte Sie nicht erschrecken, Mary –, wenn auch

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