Diktator
nickten beide und gingen weiter. Mary wusste, dass Gary in der Nähe war, irgendwo in diesem überfüllten, betriebsamen Gebäude, und darum kamen ihr diese letzten Augenblicke, dieser Gang durch die Flure mit ihren glänzenden Böden endlos vor, als dehne sich die Zeit.
Schließlich gelangten sie zur Station dreiundzwanzig. Zwei Bettreihen standen vor einem großen Schiebefenster, das man weit aufgerissen hatte, um das Licht und die Luft des Gartens hereinzulassen. In sämtlichen Betten lagen reglose, blessierte Körper. Mary konnte den Anblick ihrer Gesichter nicht ertragen. Sie marschierte weiter und schaute dabei auf die Namen auf den Krankenblättern, die an den eisernen Bettgestellen befestigt waren.
Und da stand sein Name, WOOLER, GARY P., mit seiner Dienstnummer beim britischen Militär. Er lag unter einer dicken weißen Decke auf dem Rücken, die Augen geschlossen. Ein magerer junger Mann mit dickem schwarzem Haar, der einen weißen Kittel trug, saß auf einem harten Stuhl an seinem Bett und beäugte die drei Besucher.
Gary schien zu schlafen. Sein Gesicht war sauber,
obwohl Mary ein paar blaue Flecken sah, aber seine blonden Haare auf dem Kissen waren verfilzt und schmutzig. Neben ihm stand ein Tropf; ein durchsichtiger Schlauch schlängelte sich in eine Ader an seinem Arm, ein kleiner Verband verbarg die Nadel. Mary war ungeheuer erleichtert, dass er auf den ersten Blick ganz aussah: zwei Arme, zwei Beine, kein grässlicher, an seinen Körper geschnallter medizinischer Apparat.
Aber Hilda weinte mit gewaltigen, lautlos wogenden Schluchzern. Mary spürte, wie auch ihr die Tränen kamen. Sie begrub das Gesicht am Hals des Mädchens und roch die Stärke in ihrer Uniform.
Als sie sich voneinander lösten, wandte sich Mary an den jungen Mann auf dem Stuhl. »Pfleger?«, flüsterte sie. »Wann wacht er wieder auf? Können wir mit ihm reden?«
Der Mann stand auf. »Ich bin kein Pfleger. Nur ein Freiwilliger.« Er grinste und zeigte ihr ein Armband mit einem roten Kreuz. »Ich heiße Benjamin Kamen.«
Sowohl Hilda als auch George erstarrten, als sie seinen Akzent hörten. »Sie klingen wie ein Deutscher«, sagte Hilda erstaunt.
»Ich bin Österreicher«, sagte Kamen. »Genauer gesagt, ein österreichischer Jude. Ich bin nach England gekommen, um zu kämpfen, aber beim Militär haben sie mich nicht genommen. Plattfüße! Also mache ich stattdessen das hier.«
»Und warum sind Sie hier?«, fragte George. Seine Stimme klang immer noch misstrauisch.
»Weil ich diesen Akzent habe«, sagte Kamen
schlicht. »Die Engländer fühlen sich unwohl, wenn sie ihn hören. Also versuche ich, bei den Interbrigadisten auszuhelfen. Die Hälfte von ihnen erkennt meinen Akzent gar nicht, und wenn doch, fühlen sie sich ohnehin wie Außenseiter. Und dann habe ich Gary kennen gelernt, als er hierher gebracht wurde – er hat von Ihnen gesprochen, Mrs. Wooler.« Er sah Mary an. »Ihr Name war mir bekannt. Ich habe immer Ihre Artikel im Traveller gelesen, und ich bin mit Ihrer Arbeit vor dem Krieg vertraut. Ich habe hier gewartet, um Sie zu treffen.«
Mary war verwirrt. »Danke …«
»Mrs. Wooler, es gibt da etwas, worüber ich mit Ihnen reden muss. Sie könnten mir vielleicht helfen. Es ist möglicherweise dringend.«
George schnaubte. »Dringender als das hier? Um Himmels willen, Mann.«
»Tut mir leid.« Kamen wich mit erhobenen Händen zurück.
»Aber geht es ihm gut?«, fragte Hilda.
Gary bewegte sich. »Du könntest versuchen, ihn selbst zu fragen.« Er drehte den Kopf, seine Lider flatterten, und er schlug die Augen auf.
Mary ergriff die Hand ihres Sohnes, drückte sie und presste sie an ihr Gesicht. »Oh, Gary, mein Gott. Ich hatte deinetwegen vielleicht einen Tag!«
»Tut mir leid.« Seine Stimme klang sehr trocken und brüchig. »Ich war allerdings auch nicht gerade bei einem Picknick, das kann ich dir sagen.« Er drehte den Kopf zu Hilda, die wieder von diesem seltsamen
lautlosen Schluchzen gequält wurde, und streichelte ihr das Gesicht. George, der wie ein Klotz dastand, legte seiner Tochter eine Hand auf die Schulter.
»Er ist glimpflich davongekommen«, sagte Ben Kamen leise. »Ob Sie’s glauben oder nicht. Die Soldaten kommen übel zugerichtet von den französischen Stränden zurück. Wenn sie bei uns eingeliefert werden, sieht’s hier eher aus wie auf einem Truppenverbandsplatz als wie in einem Krankenhaus.«
»Und du«, sagte Hilda und strich Gary über die Stirn, »siehst aus, als brauchtest du
Weitere Kostenlose Bücher