Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin
wichtig Empfundenes einfach nicht reagiert. Ein schönes Trainingsfeld sind Amtsbriefe, deren Farbcodierung sicher wissenschaftlich daraufhin optimiert wurde, maximale Sofortbesorgnis beim Empfänger zu verursachen. Ein Proband aus Berlin, nennen wir ihn Sascha L., hat ein solches Experiment unfreiwillig veranstaltet. Die Ausgangslage war ebenso einfach wie unangenehm: Er empfand autofahrend eine Ampel als gerade noch ausreichend grün. Das an der Kreuzung aufgestellte Blitzgerät gelangte zu einer anderen Meinung.
Es folgte eine Kaskade von Briefen in einem Crescendo der Bedrohlichkeit, die Sascha L. wegen seiner ausgeprägten Stärke, Briefe ungeöffnet liegen lassen zu können, erst ein gutes Jahr später überhaupt zu Gesicht bekam. Der erste Amtsbrief enthielt ein Foto, das qualitativ durchaus als Daguerreotypie hätte durchgehen können. Anhand seiner markanten Gesichtsbehaarung war L. trotzdem leicht zu identifizieren. Neben dem offensichtlichen Schuldbeweis enthielt das Schreiben auch eine Aufforderung an den Halter des Fahrzeugs, doch bitte zum Vorwurf Stellung zu nehmen. Selbst wenn L. den Brief zeitnah geöffnet hätte, wäre eine Beantwortung unwahrscheinlich gewesen: Zur Stärke des Ungeöffnet-Liegenlassens gesellte sich in diesem Fall die Stärke, offene Fragen unbeantwortet zu lassen. In den folgenden Briefen, die etwa im Monatsrhythmus eintrafen, nahm der Ton der Aufforderung an Schärfe zu. Schließlich drohten die Briefe unverhohlen mit einer gerichtlichen Eskalation; die vom Amt dafür verwendeten Formeln sind zu unerfreulich, als dass sie hier reproduziert werden könnten, und müssten dafür ja auch erst mal nachgelesen werden. Das Experiment schien seinem Höhepunkt mit der Härte des Gesetzes entgegenzustreben, L. war beim Öffnen desletzten Briefes darauf gefasst, eine in Abwesenheit gefällte Verurteilung zu Geldbuße und Haftstrafe aus dem Umschlag zu ziehen und schon Stunden später in Handschellen abgeführt zu werden. Stattdessen stand dort, dass das Verfahren mangels Beweisen eingestellt worden war. Ohne Strafe, ohne Punkte in Flensburg, ohne Konsequenzen, einfach eingestellt.
Wir lernen daraus, dass Probleme selten so wichtig sind, wie sie sich nehmen, und dass nicht zu reagieren manchmal die beste Reaktion darstellt. Jede Äußerung des Halters wäre hier als Schuldeingeständnis interpretiert worden – oder man hätte doch zumindest erkannt, dass sich hier jemand mit der Sache befasst. Probleme sind wie hässliche, dreibeinige Hunde: Sie kommen zu demjenigen, der sich um sie kümmert, und bleiben dann dort, selbst wenn man sie jeden Tag beschimpft.»
(Sascha Lobo)
Triumph des Unwillens
Von Haltung und Gewissen
«An guten Vorsätzen war er unerschöpflich – Dies machte ihn aber auch beständig mit sich selber unzufrieden, weil der guten Vorsätze zu viele waren, als dass er sich selber jemals hätte ein Genüge tun können.»
(Karl Philipp Moritz: «Anton Reiser»)
In diesem Moment lesen Sie ein Buch, obwohl Sie eigentlich zu tun hätten. Eigentlich sollten Sie Ihren Schreibtisch aufräumen, dringende Korrespondenz erledigen und endlich die To-do-Liste abarbeiten beziehungsweise erst mal schreiben. Dann aber ist Ihnen dieses Buch in die Hände gefallen, als Sie nach Druckerpapier suchten, um etwas ungeheuer Wichtiges auszudrucken. Und Sie haben die Gelegenheit ergriffen, es zu lesen – das hatten Sie sich wahrscheinlich schon mehrmals vorgenommen, aber irgendwie immer wieder aufgeschoben. Wir nehmen Ihnen das alles nicht übel; lesen Sie das Buch einfach genau jetzt, denn vermutlich hängen auch Sie dem Lifestyle of Bad Organisation an – oder vielmehr hängt der Lifestyle Ihnen an: Schlechte Organisation sucht man sich selten aktiv aus, sie läuft einem eher zu, beißt sich fest und lässt sich schließlich kaum mehr abschütteln.
Es leiden offenbar so viele unter einem mehr oder weniger organisationsfernen Lebensstil, dass es sich lohnt, tonnenweise Ratgeberliteratur in die Buchregale zu pressen. Dagegen wäre nichts einzuwenden, nur setzt die überwiegende Mehrheit am völlig falschen Ende an, nämlich an der schlechten Organisation statt am Leiden selbst. Als Hauptgrundfür diesen Lebensstil werden in der Regel Disziplinlosigkeit, Angst und einige andere negative oder bemitleidenswerte Charakterzüge genannt. Die meisten empfohlenen Maßnahmen bestehen aus einer Variation der Aufforderung «Reiß dich endlich zusammen» oder versorgen den Hilfesuchenden mit 139
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