Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin
Jahrhunderts und ihrer (vorläufigen) Blüte in diesem Jahrtausend erleben wir eine erstaunliche Beschleunigung von Arbeit, Kommunikation und auch Privatleben. Jeder Jugendliche kommuniziert allein mit Handy, Laptop und Spielkonsole in einer Frequenz, die jeden Daytrader in den neunziger Jahren neidisch gemacht hätte: Eine Untersuchung des «Medienpädagogischen Forschungsverbunds Südwest» ergab, dass Jugendliche im Durchschnitt weit über einhundert SMS im Monat verschicken – eine Kommunikationsform, die fünfzehn Jahre zuvor nicht existierte. Diese Verhaltensweisen, die sich auch in der Berufswelt vieler Erwachsener spiegeln, beschreibt Dr. Edward M. Hallowell in seinem Buch «CrazyBusy». Der auf das Aufmerksamkeitsdefizitsyndrom spezialisierte Arzt nennt das Phänomen die «ADSisierung des Alltags» und stellt fest: «Die früher seltenen Symptome von ADS scheinen inzwischen bei so ziemlich jedem aufzutreten.»
Der amerikanische Autor und Moderator Thom Hartmann hat in den 1980er Jahren ein Erklärungsmodell für ADS erdacht, das zwar nicht unbedingt als wissenschaftliche Theorie verstanden werden soll, aber zur Verdeutlichung gut funktioniert. Er geht davon aus, dass über viele Tausende Jahre unsere Vorfahren in zwei Funktionsgruppen einzuteilen waren: in Jäger und in Farmer.
Der Jäger musste seine Augen und Ohren ständig überall haben, um jeder Bewegung eines Tieres entweder zur Jagd nachzurennen oder vor ihr davonzulaufen. Gleichzeitig hätte es sich nicht gelohnt, eine Büffelherde zu lange zu verfolgen und damit wertvolle Energie zu verschwenden. So erklärt sich die kurzfristig hohe Motivation, die irgendwann erlahmt und es dem Jäger so schwermacht, längere Projekte bis zum Ende zu verfolgen. Auf den Beutetouren waren Ablenkbarkeit, unruhiger Schlaf und eine ständige Alarmbereitschaft seine besten Freunde, sie halfen ihm zu überleben.
Anders die Farmer, die sich Tag für Tag um den Ackerbau kümmern mussten. Plötzliche Begeisterung für zwei Wochen Lachskäscherei hätte ihr Feldpflegekonzept empfindlich gestört. Planungsintelligenz, Beständigkeit und langanhaltender Arbeitswille waren die Waffen, mit denen sie nicht auf dem Schlacht-, sondern auf dem Gemüsefeld Erfolge erzielten.
Während Hartmann noch davon ausging, dass wir in einer farmerorientierten Gesellschaft leben und so die Schwierigkeiten vieler ADSler erklären wollte, erkennt Hallowell, dass inzwischen ein Wandel stattfindet: eine Verschiebung von der Farmergesellschaft hin zur Jägergesellschaft. Schnelligkeit und die Bereitschaft, sich Stress auszusetzen, werden durch die beschleunigten Arbeitsstrukturen zunehmend entscheidender. Im schlimmsten, aber wahrscheinlichsten Fall wird von uns erwartet, dass wir die Fähigkeiten beider Gruppenbeherrschen und die Schnelligkeit und Kreativität der Jäger ebenso abrufbar im Repertoire führen wie die Konstanz und Solidität der Farmer.
Die Anforderungen steigen also nicht nur, was Fachkenntnisse und Technologien angeht, sondern auch, was die erwartete Anpassungsfähigkeit betrifft – man hat mit immer mehr unterschiedlichen Aufgaben, Ansprüchen und Szenarien gefälligst zurechtzukommen.
Leistet man diese aktive Anpassung nicht, ist die Gefahr groß, dass man die Schuld bei sich selbst sucht. «Andere Menschen kommen schließlich mit ähnlichen Belastungen zurecht», vergleicht man sich. Dabei wird ignoriert, dass sich äußerer Anschein und inneres Empfinden erheblich unterscheiden können. Scheinbar hochkompetente Personen leiden abends heimlich unter der Bettdecke. Zu leicht und vorschnell zieht der LOBO den Schluss, die Überforderung und damit das Aufschieben ganz allein verschuldet zu haben, und resigniert, obwohl tatsächlich die Ansprüche in ihrer Summe zu hoch sind. Diese Selbstzweifel sind ebenso weit verbreitet wie weitgehend falsch. Nur an einer Stelle ist es wirklich sinnvoll, die Schuld bei sich selbst zu suchen: Jeder LOBO ist dafür verantwortlich, sich eine Umgebung zu suchen oder zu schaffen, die so gut wie möglich zu seinen Fähigkeiten passt.
«Ein großer Teil der Überforderung durch die Welt entsteht durch eine Angewohnheit von Problemen, die sie mit Menschen gemein haben: Sie machen sich fast immer wichtiger, als sie sind. Probleme korrekt wahrzunehmen und einzuordnen ist mit zunehmender Komplexität des Alltags schwieriger geworden.
Dagegen kann helfen auszuprobieren, was passiert, wenn man auf etwas gemeinhin als absolut unfassbar
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