Dinge geregelt kriegen – ohne einen Funken Selbstdisziplin
Umstände stets dringender und zwingender aus, als sie eigentlich sind. Scheinbaren Dringlichkeiten zu trotzen und im richtigen Moment auch mal nichts oder nicht das Geforderte zu tun ist wesentlich häufiger richtig, als man glaubt.
Nichtstun bei lautestem Schrillen der Alarmglocken hat sogar einmal die Welt gerettet. Stanislaw Petrow, damals verantwortlicher Offizier für die atomare Abwehr der Sowjetunion, entnahm dem Überwachungssystem am 26. September 1983, dass fünf US-amerikanische Atomraketen auf dem Weg nach Russland seien. In den Wochen zuvor hatte es eine Fülle von Nickeligkeiten zwischen den Supermächten im Kalten Krieg gegeben. Gewitzt tat Petrow nichts. Er hätte mit einem Knopfdruck einen nuklearen Gegenangriff auf die USA starten können, und genau das wäre letztlich seine einzige Aufgabe gewesen. Er riskierte damit mindestens sein Leben, falls die Bedrohung sich als real erweisen würde. Auch Nichthistoriker ahnen an dieser Stelle, dass sich dieSystemmeldung als Fehlalarm erwies; eine besondere Wolkenkonstellation hatte Sonnenlicht ungünstig reflektiert und die Satelliten des Überwachungssystems, offenbar ohne funktionierendes Flusensieb, getäuscht. Der Zwischenfall darf als gleißender Meilenstein in der Kunst gelten, scheinbar Dringliches aufzuschieben, bis etwas mehr Ruhe und Klarheit herrscht.
Das Ziel sollte sein, zur richtigen Zeit das Richtige zu tun und davon nur so viel wie unbedingt nötig – und das ist in den meisten Fällen weniger, als man annimmt. Für den Alltag übersetzt, bedeutet das, den ständigen Beschuss der allerwichtigsten Notwendigkeiten, dem wir unterliegen, sinnvoll einzuordnen und sich nicht davon verrückt machen zu lassen – auch und besonders nicht davon, dass man einen Teil der scheinbaren Notwendigkeiten ignoriert.
In diesem Mechanismus liegt ein wesentlicher Bestandteil der Haltungsänderung verborgen: die Abschaffung des schlechten Gewissens. Es ist so selbstverständlich geworden, mindestens fünf Tage die Woche zu arbeiten, Überstunden zu leisten, im Urlaub wenigstens eine Sprache zu lernen, ein paar Fachbücher zu lesen und fitter zu werden, dass man vor seinem Gewissen kaum mehr eine Mittagspause verantworten kann, die länger dauert als eine halbe Stunde. Viele Arbeitgeber verlangen darüber hinaus, dass man seinen knappen Begeisterungsvorrat in ihre mäßig interessanten Arbeitsprozesse investiert, dass man mit Haut, Haaren und Herzblut Protokolle schreibt, Akten abheftet und das menschenverachtende Intranet auf Lotus-Notes-Basis benutzt. Arbeitgeber von heute wollen die Seele des Arbeitnehmers. Erfüllt man diese hohen Erwartungen nicht, fühlt man sich schlecht, weil man sich schlecht fühlen soll. Selbst durchschnittlich disziplinierte Arbeitnehmer haben mit den Full-Service-Ansprüchen heutiger Arbeitgeber oft Probleme.LOBOs aber benötigen in disziplinkritischen Bereichen den dreifachen Energieaufwand, um ein Drittel zu erreichen. Das kann einen kräftezehrenden Teufelskreis der Anstrengung in Gang setzen, wenn die scheinbar eigene Unzulänglichkeit mit noch mehr Arbeit wettgemacht werden soll.
Aber nicht nur bei Angestellten, auch unter Selbständigen ist das schlechte Gewissen weit verbreitet. Das Fehlen geregelter Arbeitszeiten kann dazu führen, dass man sich selbst nach zwölf Stunden im Home Office schlecht fühlt, weil man schon aufhört, wo doch so viel Arbeit übrig ist. Müsste man nicht noch mehr Energie einsetzen, um ein besseres Ergebnis abzuliefern? Wird man den Ansprüchen des Auftraggebers gerecht? Der so aufgebaute Druck ist oft höher als der tatsächliche Druck des Kunden, und am Ende stehen Verzweiflungskäufe von Zeitmanagement-Literatur. Hier hilft ein Blick in das Kapitel «Halbe Kraft voraus!», um die Forderungen gegenüber sich selbst auf ein geeignetes Maß herunterzuschrauben.
Aus dem schlechten Gewissen des Freiberuflers, wenn er sich mitten in der Woche ein, zwei freie Tage nimmt oder es nicht schafft, eigenen oder fremden Ansprüchen gerecht zu werden, kann eine anhaltende Unzufriedenheit mit der eigenen Arbeit resultieren. Als Reaktion werden die Bemühungen intensiviert. Feierabend wird zu einem Wort aus einer Gewerkschaftsbroschüre, und man würde ausbrennen, wenn man es sich irgendwie leisten könnte. Das schlechte Gewissen, weil man Arbeiten nicht rechtzeitig oder nicht gut genug oder überhaupt nicht erledigt hat, führt so ebenfalls in einen Teufelskreis.
Die Lösung liegt in der Selbstkenntnis
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