Doch die Sünde ist Scharlachrot
ihren Augenbrauen und Lippen oder einen Stecker in der Zunge getragen hätte. Nicht dass ihm das gefiel, aber er hätte es verstanden. Das war nun einmal die Mode bei gewissen Leuten in ihrem Alter, und man konnte nur hoffen, dass sie zu Verstand kamen, ehe sie sich vollkommen entstellten. Waren sie erst einmal einundzwanzig oder vielleicht fünfundzwanzig und stellten fest, dass ihnen gut bezahlte Jobs nicht gerade vor die Füße fielen, dann besannen sie sich schon wieder selbst eines Besseren. So wie Tammys Vater. Und was war der jetzt? Lieutenant Colonel in der Army und in Rhodesien stationiert oder wo auch immer – denn Selevan kam bei den häufigen Versetzungen nicht mehr mit, und für ihn würde es immer Rhodesien bleiben und auch so heißen, ganz egal wie es sich heutzutage nannte. Jedenfalls hatte er eine glänzende Karriere eingeschlagen.
Aber Tammy? »Können wir sie zu dir schicken, Dad?«, hatte ihr Vater Selevan gefragt. Seine Stimme am Telefon hatte so deutlich geklungen, als stünde er im Nachbarzimmer und nicht in irgendeinem afrikanischen Hotel, wo er seine Tochter geparkt hatte, nur um sie wenig später in den Flieger nach England zu setzen. Was hätte ihr Großvater da noch tun können? Sie hatte ihr Ticket bereits in der Tasche. Sie war quasi schon unterwegs. »Wir können sie dir doch schicken, Dad, oder? Das hier ist nicht die richtige Umgebung für sie. Sie sieht hier zu viel. Wir glauben, das ist das Problem.«
Selevan hatte seine eigene Theorie, was das Problem war, aber ihm gefiel der Gedanke, dass ein Sohn sich auf die Weisheit seines Vaters berief. »Schick sie mir«, hatte er also zu David gesagt. »Aber wenn sie bei mir wohnt, lasse ich mir nicht auf der Nase herumtanzen. Sie muss ordentlich essen und ihr Zeug aufräumen und …«
Das sei doch selbstverständlich, versicherte sein Sohn ihm.
Und so war es auch. Das Mädchen hinterließ kaum eine Spur irgendwo. Selevan hatte geglaubt, sie würde ihm Kummer bereiten, aber er hatte gelernt, dass der Kummer, den sie ihm machte, darin bestand, dass sie ihm nicht einen Hauch von Kummer machte. Das war nicht normal, und das war der Kern des Problems. Denn, verdammt noch mal, sie war doch seine Enkelin. Und das hieß, sie sollte normal sein.
Sie schnipste den letzten Prospekt an seinen Platz, rückte dann den ganzen Stapel gerade und trat einen Schritt zurück, so als wollte sie ihr Werk begutachten, als Will Mendick eintrat. »Hat nichts genützt«, eröffnete er Tammy. »Coyle stellt mich nicht wieder ein.« Und an Selevan gewandt: »Sie sind heute früh dran, Mr. Penrule.«
Tammy fuhr herum. »Grandpa! Hast du meine Nachricht nicht bekommen?«
»Ich war noch nicht zu Hause«, erklärte Selevan.
»Oh. Ich wollte … Will und ich hatten vor, nach Feierabend noch einen Kaffee trinken zu gehen.«
»Ach, wirklich?« Selevan war erfreut. Vielleicht hatte er sich ja doch getäuscht, was Tammys Einstellung zu dem jungen Mann betraf.
»Er fährt mich anschließend nach Hause.« Dann runzelte sie die Stirn, als ihr aufging, dass es noch viel zu früh war, um von ihrem Großvater abgeholt zu werden. Sie sah auf die Uhr, die locker um ihr dürres Handgelenk schlackerte.
»Ich komme gerade vom Salthouse Inn«, erklärte Selevan. »Draußen in Polcare Cove hat es einen Unfall gegeben.«
»Geht es dir gut?«, fragte sie. »Du hast dich doch nicht verletzt?« Sie klang besorgt, und das freute Selevan. Tammy liebte ihren alten Großvater. Er war streng mit ihr, aber das nahm sie ihm nicht übel.
»Hatte nichts mit mir zu tun«, stellte er klar, und als er fortfuhr, ließ er sie nicht aus den Augen: »Es war Santo Kerne.«
»Santo? Was ist mit ihm?«
Hatte ihre Stimme sich gehoben? Hörte er Panik? Ein Sich-Wappnen gegen schlechte Neuigkeiten? Selevan hätte das gerne geglaubt, aber er brachte ihren Tonfall nicht in Einklang mit dem Blick, den sie mit Will Mendick tauschte.
»Soweit ich weiß, ist er von der Klippe gestürzt«, sagte er. »Unten in Polcare Cove. Dr. Trahair kam mit irgend so einem Wanderer in den Pub, um die Polizei zu rufen. Dieser Kerl – der Wanderer – hat den Jungen gefunden.«
»Geht es ihm gut?«, erkundigte sich Will Mendick, und im selben Moment fragte Tammy: »Aber Santo ist nichts passiert, oder?«
Das gefiel Selevan außerordentlich: die überstürzte Art, wie Tammy die Worte hervorbrachte und was das über ihre Gefühle aussagte – auch wenn man kaum einen Kerl finden konnte, der die Zuneigung eines
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