Doch die Sünde ist Scharlachrot
Ihr Gesichtsausdruck veränderte sich. Vorsicht, Polizei! Es hätte kaum deutlicher in ihren Zügen stehen können.
»Ben Kernes Sohn ist ermordet worden«, eröffnete Lynley ihr.
»Wirklich?« Unbewusst legte sie die Hand aufs Herz. »O mein Gott. Das ist aber eine traurige Nachricht. Was ist denn passiert?«
»Kannten Sie Santo Kerne?«
»Jeder hier kannte Santo. Er und seine Schwester Kerra waren als Kinder häufig für einige Zeit bei Eddie und Ann. Ann kam mit ihnen her, um Süßigkeiten oder Eis zu kaufen. Eddie nie. Er kommt nicht ins Dorf, wenn es nicht unbedingt sein muss. Schon seit Jahren nicht mehr.«
»Warum nicht?«
»Manche sagen, er sei zu stolz. Andere, er schäme sich zu sehr. Aber seine Ann ist anders. Außerdem muss sie ja arbeiten, damit Eddie seinen Traum verwirklichen und im Einklang mit der Natur leben kann.«
»Weswegen müsste er sich denn schämen?«, hakte Lynley nach.
Sie zeigte ein flüchtiges Lächeln, aber Lynley erkannte, dass es nichts mit Freundlichkeit oder Humor zu tun hatte, sondern eher damit, dass sie die Position anerkannte, in der sie beide sich im Moment befanden: er der professionelle Fragensteller, sie die Informationsquelle. »Es ist ein kleines Dorf«, antwortete sie. »Wenn die Dinge hier anfangen, für irgendwen schlecht zu laufen, können sie für eine lange Zeit schlecht bleiben, wenn Sie wissen, was ich meine.«
Die Bemerkung mochte sich auf die Kernes beziehen oder aber auch auf ihre eigene Position, und Lynley verstand das. Als Postbeauftragte und Ladenbesitzerin wusste sie sicher einiges über die Vorgänge und Geschehnisse in Pengelly Cove. Als Mitglied der Dorfgemeinschaft wusste sie aber sicher auch, dass es klug war, den Mund zu halten, wenn ein Auswärtiger sich nach Dingen erkundigte, die ihn nichts angingen.
»Sie werden mit Ann oder Eddie reden müssen«, sagte sie. »Ann kann seit dem Schlaganfall nicht mehr so gut sprechen, aber Eddie wird Ihnen das Ohr abkauen, schätze ich. Gehen Sie nur zu ihm, er ist sicher zu Hause.«
Sie wies ihnen den Weg zur Farm der Kernes, ein paar Hektar Land nordöstlich von Pengelly Cove, wo einst Schafe geweidet hatten. Die Familie hatte die Farm allerdings umgestaltet und versuchte nun, kompromisslos ökologisch zu leben.
Lynley suchte das Grundstück allein auf, denn Daidre hatte beschlossen, im Dorf zu bleiben, bis er die Angelegenheit erledigt hatte. Er fuhr durch ein verfallenes rostiges Tor, das unverschlossen war und sich auf einen steinigen Weg öffnete. Über diesen holperte er ungefähr eine dreiviertel Meile entlang, ehe er auf halber Höhe eines Hügels eine Behausung entdeckte. Sie bestand aus einem wirren Durcheinander an Materialien: Lehm, Stein, Ziegel und Holz, war teilweise eingerüstet und in schwere Planen gehüllt. Das Haus hätte aus jedem Jahrhundert stammen können. Allein die Tatsache, dass es überhaupt noch stand, grenzte an ein Wunder.
Nicht weit entfernt befanden sich ein Wasserrad und eine hölzerne Rinne, beides grob zusammengezimmert. Ersteres schien als Stromquelle zu dienen, denn es war an einen vorsintflutlichen, ebenfalls rostigen Generator angeschlossen. Letztere sollte wohl der Umleitung eines Baches dienen, welcher aus dem Wald kam, und versorgte das Rad, einen Teich und dahinter ein Kanalsystem, das den riesigen Garten durchzog. Der Garten schien frisch bepflanzt und harrte der späten Frühlingssonne. Ein gewaltiger Komposthaufen ragte im Hintergrund auf.
Lynley parkte neben einer Ansammlung alter Fahrräder, die die Besitzer offensichtlich nicht einmal mehr für wert hielten, ordentlich in den Fahrradständer zu stellen. Nur eines der Räder hatte aufgepumpte Reifen, doch im Großen und Ganzen schienen sie alle sich im Zustand unaufhaltsamer Auflösung zu befinden. Auf den ersten Blick fand Lynley keinen direkten Weg zur Vorder- oder Hintertür des Hauses. Ein ausgetretener Pfad schlängelte sich vom Fahrradständer in Richtung Baugerüst; bei näherer Betrachtung blitzten zwischen all dem niedergetrampelten Unkraut sogar eine Handvoll Pflastersteine hervor. Lynley balancierte von einem dieser Pflastersteine zum nächsten und gelangte zu etwas, was möglicherweise der Hauseingang war: eine Tür, der Wind, Wetter und Holzwürmer derart zugesetzt hatten, dass man kaum glauben mochte, sie könne noch in Betrieb sein.
Doch das war sie. Mehrfaches vernehmliches Klopfen rief einen alten und schlecht rasierten Mann auf den Plan. Eines seiner Augen war von grauem Star
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