Doch die Sünde ist Scharlachrot
lediglich aus zwei Straßen, einem Feldweg und einem Pfad, der sich an einer wohlriechenden Milchfarm vorbeischlängelte und zu den Klippen oberhalb der See führte. Die Kirche war vor einigen hundert Jahren auf einem kleinen Hügel errichtet worden, sodass sie das meiste all dessen überblickte.
Sie war wie so viele Kirchen auf dem Lande in Cornwall unverschlossen. Stille und der Geruch alter Steine beherrschten das Innere. Farbtupfer lieferten lediglich die Kniekissen, die in Reih und Glied entlang der Bänke lagen, und das Glasfenster über dem Altar, das eine Kreuzigungsszene darstellte.
Der Meerjungfrauensitz war offenbar die Hauptattraktion der Kirche. Er hatte einen besonderen Platz in der Seitenkapelle, und darüber hing ein Schild mit einigen erklärenden Worten, die darlegten, dass hier ein aphroditisches Symbol von mittelalterlichen Christen vereinnahmt worden sei, um die menschliche und göttliche Natur Christi zu veranschaulichen. Lynley fand das arg weit hergeholt, aber er nahm an, die Christen hatten es in diesem Teil der Welt nicht leicht gehabt; schon gar nicht im Mittelalter.
Der Sitz war schlicht und hatte mehr Ähnlichkeit mit einem schmalen Betstühlchen als mit einem Thron oder Ähnlichem. Er war aus uralter Eiche gefertigt und zeigte Schnitzereien des namengebenden Fabelwesens mit einem Spiegel in der einen und einem Kamm in der anderen Hand. Doch es saß niemand darauf und wartete auf Lynley.
Es blieb ihm folglich nichts weiter übrig, als seinerseits zu warten, also setzte er sich in die Bank, die dem Sitz am nächsten stand. Es war kalt und vollkommen still in der Kirche.
In seiner derzeitigen Lebenssituation war Lynley nicht gerade erpicht auf Kirchen. Die Hindeutung auf die Vergänglichkeit, die ihre Friedhöfe implizierten, gefiel ihm nicht. Er wollte nicht an Sterblichkeit erinnert werden. Darüber hinaus glaubte er an nichts außer an den Zufall und die Unmenschlichkeit, mit der Menschen einander begegneten. Seiner Meinung nach gaben sowohl die Kirchen als auch die Religionen, die sie repräsentierten, unhaltbare Versprechungen. Es war einfach, die ewige Seligkeit nach dem Tod zu garantieren, solange niemand zurückkehrte, um davon zu berichten. Also war völlig offen, ob die strikte Befolgung moralischer Regeln oder die Gräuel, die Menschen einander antaten, irgendwelche Folgen zeitigten.
Er hatte noch nicht lange gewartet, als er die Kirchentür hörte. Sie wurde schwungvoll geöffnet und fiel polternd zu, als wäre sie unwillig, auf diejenigen Rücksicht zu nehmen, die womöglich ins Gebet vertieft waren.
Lynley schob sich aus der Bank. Eine hochgewachsene Gestalt kam im dämmrigen Licht auf ihn zu. Der Mann schritt agil aus, und erst als er in den Seitenflügel trat, konnte Lynley ihn im Licht des Fensters richtig erkennen.
Lediglich das Gesicht verriet das Alter des Ankömmlings, denn seine Haltung war kerzengerade und sein Körperbau kräftig. Das Gesicht jedoch war tief gefurcht, die Nase von einem Rhinophym entstellt, das ihr das Aussehen eines Blumenkohls verlieh, der in Rotebetesaft getaucht worden war. Ferrell hatte ihm den Namen dieser potenziellen Informationsquelle über die Kernes verraten: David Wilkie, Chief Inspector im Ruhestand und einstmals bei der Devon and Cornwall Constabulary beschäftigt, die die rätselhaften Todesumstände von Jamie Parsons untersucht hatte.
»Mr. Wilkie?« Lynley stellte sich vor. Er zog seinen Dienstausweis hervor, und Wilkie setzte eine Brille auf, um ihn zu studieren.
»Weit von Ihrem Revier entfernt, was?«, fragte Wilkie. Er klang nicht besonders freundlich. »Wieso interessieren Sie sich für den Parsons-Fall?«
»War es Mord?«, fragte Lynley.
»Wir konnten es nie beweisen. Am Ende hieß es Tod durch Unglücksfall, aber Sie und ich, wir wissen beide genau, was das heißt. Es kann alles Mögliche dahinterstecken, nur beweisen kann man nichts. Also muss man sich darauf verlassen, was die Leute sagen.«
»Darum bin ich zu Ihnen gekommen. Ich habe mit Eddie Kerne gesprochen. Sein Sohn Ben …«
»Mein Gedächtnis funktioniert einwandfrei, mein Junge. Ich wäre immer noch im Dienst, wenn die Regeln es zuließen.«
»Wollen wir irgendwohin gehen und reden?«
»Sie halten wohl nicht viel auf das Haus Gottes, nein?«
»Derzeit nicht, fürchte ich.«
»Was sind Sie? Ein Schönwetterchrist? Der Herr hat nicht genau das abgeliefert, was Sie wollten, und schon schlagen Sie ihm die Tür vor der Nase zu? So in etwa? Ihr jungen
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