Doch du wirst nie vergessen: Roman (German Edition)
Mindestmaß an Schutz. Selbst für Belle, die nie woanders gelebt hatte, war es ein schmutziger, stinkender, lärmender Ort, und sie konnte verstehen, wie erschreckend er auf jemanden wirken musste, der von einer der benachbarten eleganteren Straßen falsch abbog und sich versehentlich hierher verirrte.
Aber jetzt, im gelben Schein der Gaslaterne, sah Jake’s Court unter der dicken Schneeschicht wie verzaubert und wunderschön aus. Außerdem war die Straße menschenleer, was kaum jemals vorkam,und Belle nahm an, dass heute Abend im Haus kaum Betrieb sein würde.
Im Zimmer war es mittlerweile schön warm. Die Vorhänge waren zugezogen, das Gaslicht heruntergedreht, und der Raum, der nur vom Kaminfeuer erhellt wurde, wirkte so anheimelnd, dass Belle der Versuchung, sich kurz aufs Bett zu legen und auszuruhen, nicht widerstehen konnte. Sie erwartete Millie jeden Moment zurück. Sicher würde das Mädchen außer sich vor Freude sein, weil das Zimmer so schön geputzt war.
Belle spürte, dass sie schläfrig wurde, und versuchte sich aufzuraffen, aus dem Bett zu steigen und nach unten zu gehen, aber es war einfach zu warm und gemütlich.
Das Geräusch von Schritten auf der Treppe riss sie abrupt aus dem Schlaf. Sie hatte keine Ahnung, wie spät es war, aber das Feuer war fast erloschen, was nur bedeuten konnte, dass es inzwischen Abend war und sie sehr lang geschlafen hatte. Ihr Magen schnürte sich vor Aufregung zusammen, denn dass sie nach fünf Uhr nachmittags nicht mehr nach oben durfte, war eine von Annies striktesten Regeln. Belle konnte sich immer noch an die Tracht Prügel erinnern, die sie mit sechs Jahren einmal bezogen hatte, weil sie dieses Verbot missachtet hatte.
Blinde Panik ließ sie aufspringen, die Decke glatt streichen und hastig unters Bett schlüpfen. Wenn Millie allein war, könnte sie ihr erklären, warum sie in ihrem Zimmer war, sagte Belle sich. Bestimmt würde Millie ihr helfen, sich unbemerkt in die Küche zurückzustehlen.
Ihr sank der Mut, als die Tür aufging und Millie, gefolgt von einem Mann, hereinkam. Millie drehte das Gaslicht hoch und zündete zusätzlich noch ein paar Kerzen an. Von ihrem Versteck unter dem Bett aus konnte Belle nicht mehr als die untere Hälfte von Millies hellblauem, mit Spitzenrüschen besetzten Kleid und die dunkelbraunen Hosen und seitlich geknöpften Halbstiefel des Mannes erkennen.
»Warum hast du dich letzte Woche, als ich hier war, verleugnenlassen?«, fragte der Mann. Seine Stimme war schroff, und er klang böse.
»Ich war wirklich nicht hier«, erwiderte Millie. »Ich hatte den Abend frei und war meine Tante besuchen.«
»Heute habe ich jedenfalls für die ganze Nacht mit dir bezahlt«, sagte er.
Belles erste Reaktion war der Schock darüber, dass der Mann bezahlt hatte, um bei Millie im Zimmer bleiben zu dürfen. Aber dann machte ihr Herz einen Satz, als ihr klar wurde, was das bedeutete: Sie saß in der Falle! Wie sollte sie hier herauskommen? Sie konnte unmöglich bleiben, aber ebenso wenig konnte sie einfach unter dem Bett hervorkriechen, sich für ihr Eindringen entschuldigen und verschwinden.
»Die ganze Nacht«, wiederholte Millie, und es klang, als wäre sie über diese Aussicht genauso entsetzt wie Belle.
Dann herrschte Schweigen, und Belle nahm an, dass die beiden sich küssten, weil sie eng beieinander standen. Sie konnte schweres Atmen und das Rascheln von Kleidern hören, und auf einmal landete Millies Kleid nur ein paar Zentimeter von Belle entfernt auf dem Boden. Ein Unterrock folgte, dann die Stiefel und Hosen des Mannes, und plötzlich dämmerte Belle, was es genau bedeutete, eine Hure zu sein. Männer bezahlten Huren, um mit ihnen das zu tun, was sie eigentlich nur mit ihren Ehefrauen machen sollten, um Kinder zu bekommen. Sie konnte nicht begreifen, warum ihr das nicht schon früher klar geworden war. Aber nun, da sie es wusste, wurde ihr elend bei dem Gedanken, dass Jimmy und alle anderen, die sie kannte, dachten, sie würde Männern erlauben, dasselbe mit ihr zu tun.
Millie war nur noch mit ihrem Hemd, ihren Strümpfen und ihren spitzenbesetzten weißen Höschen bekleidet. Der Mann hatte zusammen mit Hose und Stiefeln seine Jacke abgelegt, sein Hemd aber angelassen. Es reichte ihm fast bis zu den Knien und gab den Blick auf sehr muskulöse, behaarte Beine frei.
»Ich lege noch ein bisschen Kohle nach, das Feuer ist beinaheaus«, sagte Millie plötzlich. Als sie sich vorbeugte, um die Schaufel in den Kohlenkübel zu stecken,
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