Doctor Sleep (German Edition)
passte. Wenn man mit eigenen Augen sah, wie Männer und Frauen hinübergingen – wie sie aus ihrem Teenytown, das man Realität nannte, in das Wolkentor des Jenseits überwechselten –, so veränderte das die eigene Denkweise. Für Menschen, die im Sterben lagen, war es die Welt, die hinüberging. In solchen Momenten des Übergangs hatte Dan immer die Gegenwart einer gewaltigen, nicht ganz sichtbaren Instanz gespürt. Wer starb, schlief ein, wachte wieder auf, reiste irgendwohin . Er zog weiter. Dan hatte immer gute Gründe gehabt, das zu glauben, schon als Kind.
» Was denkst du gerade?«, fragte Abra. »Ich kann es sehen, aber ich kapier es nicht. Und ich will es kapieren.«
»Ich weiß nicht, wie ich es erklären soll«, sagte er.
»Es geht teilweise um die Geisterleute, stimmt’s? Die hab ich schon einmal gesehen, in Frazier, in dieser kleinen Eisenbahn.«
Seine Augen weiteten sich. »Tatsächlich?«
»Ja. Ich glaube nicht, dass sie mir etwas antun wollten – sie haben mich bloß angeschaut –, aber irgendwie gruselig waren sie trotzdem. Ich glaube, es waren vielleicht Leute, die früher mit dem Zug gefahren sind. Hast du auch schon Geisterleute gesehen? Das hast du, oder?«
»Ja, aber das ist schon lange her.« Und manche waren wesentlich mehr als nur Geister gewesen. Schließlich hinterließen Geister keine Rückstände auf Klobrillen und Duschvorhängen. »Abra, was wissen deine Eltern über deine Hellsichtigkeit?«
»Mein Dad meint, sie ist verschwunden – bis auf manchmal, zum Beispiel als ich aus dem Sommerlager angerufen hab, weil ich wusste, dass Momo krank ist. Er ist froh darüber. Meine Mama weiß, dass es noch da ist, weil sie mich manchmal bittet, ihr was suchen zu helfen, was sie verloren hat – letzten Monat war es ihr Autoschlüssel, den hatte sie auf Dads Werkbank in der Garage liegen lassen –, aber sie weiß nicht, wie viel noch da ist. Jedenfalls sprechen die beiden nicht mehr darüber.« Abra hielt inne. »Momo weiß Bescheid. Die hat keine Angst davor wie Mama und Dad, aber sie hat mir gesagt, ich muss vorsichtig sein. Denn wenn es jemand rauskriegt …« Sie zog eine Grimasse, rollte mit den Augen und streckte die Zunge aus dem Mundwinkel. »Iiih, ein Psycho. Du verstehst schon, oder?«
(ja)
Sie lächelte dankbar. »Klar verstehst du das.«
»Sonst niemand?«
»Tja … Momo hat gesagt, ich soll mit Dr. John sprechen, weil der sich in so Sachen ein bisschen auskennt. Er, äh, hat was gesehen, was ich mit Löffeln gemacht hab, als ich noch ganz klein war. Ich hab nämlich welche an die Decke gehängt.«
»Meinst du womöglich John Dalton?«
Ihr Gesicht leuchtete auf. »Kennst du ihn?«
»Zufällig ja. Ich hab einmal etwas für ihn gefunden. Etwas, was er verloren hatte.«
(eine Uhr!)
(genau)
»Ich hab ihm nicht alles erzählt«, sagte Abra. Sie blickte unbehaglich drein. »Auf jeden Fall hab ich ihm nichts von dem Baseballjungen erzählt, und von der Frau mit dem Hut würde ich ihm nie erzählen. Sonst würde er es meinen Eltern verraten, und die haben sowieso schon genug an der Backe. Außerdem – was könnten die schon tun?«
»Stellen wir das vorläufig mal zurück. Wer ist dieser Baseballjunge?«
»Bradley Trevor. Brad. Manchmal, wenn seine Mannschaft zurücklag, hat er seine Mütze umgedreht. Du weißt doch, wieso man so was macht, oder?«
Dan nickte.
»Er ist tot. Diese Typen haben ihn umgebracht. Aber zuerst haben sie ihm wehgetan. Sie haben ihm ganz arg wehgetan.« Ihre Unterlippe begann zu zittern, und mit einem Mal sah sie eher wie eine Neunjährige aus als wie gerade einmal zwölfeinhalb.
(nicht weinen Abra sonst wird man auf uns aufmerksam)
(ich weiß ich weiß)
Sie senkte den Kopf und atmete mehrfach tief durch, bevor sie wieder zu ihm hochsah. Ihre Augen glänzten noch, aber ihr Mund hatte aufgehört zu zittern. »Ist schon wieder gut«, sagte sie. »Ehrlich. Ich bin bloß froh, dass ich mit dem, was da in meinem Kopf ist, nicht alleine bin.«
8
Er hörte aufmerksam zu, während sie erzählte, woran sie sich von ihrer ersten und inzwischen zwei Jahre zurückliegenden Begegnung mit Bradley Trevor erinnerte. Viel war es nicht. Das klarste Bild, das ihr geblieben war, zeigte die sich kreuzenden Lichtkegel vieler Taschenlampen, die auf den am Boden liegenden Jungen gerichtet waren. Und seine Schreie. An die erinnerte sie sich gut.
»Sie mussten ihn beleuchten, weil sie so was wie eine Operation vorgenommen haben«, sagte Abra. »So haben sie es
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