Doctor Sleep (German Edition)
strahlte ihn an.
Das war sie also. Abra. Wie in Abrakadabra.
Für ihr Alter war sie groß gewachsen, wofür vor allem ihre langen Beine sorgten. Ihr lockiges, blondes Haar war zu einem üppigen Pferdeschwanz gebunden, der aussah, als wollte er sich rebellisch in alle Richtungen ausbreiten. Es war kühl, und sie trug eine leichte Jacke, auf deren Rücken in Siebdruck der Schriftzug ANNISTON CYCLONES leuchtete. Sie griff sich das mit einem Gummiseil umschlungene Bündel Bücher, das an ihrem Lenker hing, und rannte auf Dan zu, immer noch mit diesem offenen, strahlenden Lächeln. Hübsch, wenn auch keine große Schönheit. Bis auf ihre weit auseinanderstehenden Augen. Die waren schön.
»Onkel Dan! Mann, es ist toll, dass du gekommen bist.« Womit sie ihm einen herzhaften Schmatz auf die Wange gab. Das war nicht geplant gewesen. Ihr Vertrauen darin, dass er ein anständiger Kerl war, wirkte regelrecht erschreckend.
»Ich freue mich auch, dass wir uns kennenlernen, Abra. Setz dich.«
Er hatte ihr gesagt, dass sie vorsichtig sein mussten, und Abra – als Kind ihrer Zeit – hatte sofort begriffen. Sie waren sich einig gewesen, dass es am besten sein würde, sich im Freien zu treffen, und es gab wenige Orte in Anniston, die für diesen Zweck geeigneter waren als die Grünanlage vor der Bücherei, die in der Mitte des kleinen Stadtzentrums gelegen war.
Abra betrachtete ihn mit offenem Interesse, vielleicht sogar mit einer Art Wissensdurst. Er spürte, wie winzige Finger leicht an die Innenseite seines Kopfs klopften.
(wo ist Tony?)
Dan legte einen Finger an die Schläfe.
Abra lächelte, und das brachte ihre Schönheit dann doch zur Entfaltung und verwandelte sie in ein Mädchen, das in vier bis fünf Jahren Herzen brechen würde.
( HI TONY! )
Das war so laut, dass er zusammenzuckte, und er dachte wieder daran, wie Dick Hallorann am Lenkrad seines Cadillacs zusammengefahren war und wie seine Augen einen Moment lang jeden Ausdruck verloren hatten.
(wir müssen uns laut unterhalten)
(ja okay)
»Ich bin ein Cousin deines Vaters, ja? Kein richtiger Onkel, aber du nennst mich halt so.«
»Klar, klar, du bist Onkel Dan. Wir sind sowieso nicht in Gefahr, solange die beste Freundin meiner Mutter nicht vorbeikommt. Die heißt Gretchen Silverlake. Ich glaube, sie kennt unseren ganzen Stammbaum, und der ist nicht besonders groß.«
Na, großartig, dachte Dan. Die neugierige beste Freundin.
»Kein Problem«, sagte Abra. »Ihr Sohn, der ältere, ist in der Footballmannschaft, und wenn die Cyclones spielen, geht sie immer hin. Fast alle Leute gehen hin, also mach dir keine Sorgen mehr, dass jemand denkt, du bist …«
Sie vollendete den Satz mit einem mentalen Bild, eigentlich einem Cartoon, der innerhalb eines Augenblicks aufblühte, ungelenk, aber klar. Ein kleines Mädchen wurde in einer dunklen Gasse von einem massigen Mann in einem Trenchcoat bedroht. Die Knie des Mädchens schlugen zitternd zusammen, und kurz bevor das Bild verblasste, sah Dan, wie sich über dem Kopf eine Sprechblase bildete: Iiih, ein Psycho!
»Eigentlich gar nicht so lustig.«
Er schuf ein eigenes Bild und schickte es ihr zurück: Dan Torrance in gestreifter Häftlingskleidung, wie er von zwei groß gewachsenen Polizisten abgeführt wurde. So etwas hatte er noch nie versucht, und sein Bild war nicht so gut wie ihres, aber er freute sich, dass er es überhaupt zeichnen konnte. Dann, ehe er sichs versah, hatte sie sich sein Bild angeeignet und es verändert. Nun zog er eine Pistole aus dem Hosenbund, richtete sie auf einen der Cops und drückte ab. Aus der Mündung der Waffe schoss ein Taschentuch mit dem Wort PENG darauf.
Dan starrte Abra mit offenem Mund an.
Sie hielt sich die geballten Hände vor den Mund und kicherte. »’tschuldigung. Ich konnte einfach nicht anders. Das könnten wir den ganzen Nachmittag tun, oder? Und es würde Spaß machen!«
Wahrscheinlich wäre es auch eine Erleichterung für sie, dachte Dan. Schließlich hatte sie viele Jahre im Besitz eines fantastischen Balls verbracht, ohne jemand zu haben, dem sie ihn zuspielen konnte. Für ihn galt natürlich dasselbe. Zum ersten Mal seit seiner Kindheit – seit den Begegnungen mit Hallorann – empfing er nicht nur, sondern sendete auch.
»Da hast du recht, aber jetzt ist nicht der richtige Zeitpunkt dafür. Du musst mir die ganze Sache noch mal ausführlich erklären. Die E-Mail, die du mir geschickt hast, war reichlich kurz.«
» Wo soll ich anfangen?«
» Wie
Weitere Kostenlose Bücher