Doctor Sleep (German Edition)
dem Totenbett einen Witz gemacht: Entweder verschwindet diese scheußliche Tapete – oder ich.
»Sie müssen nur warten«, sagte Eleanor. In ihrer Stimme lag nun keinerlei Humor mehr. »Die Lampen werden die Ankunft ankündigen. Womöglich kommt es auch zu weiteren Geschehnissen. Die Tür wird aufgehen. Und dann kommt Ihr Besucher.«
Dan blickte skeptisch auf die Tür zum Flur, die bereits offen stand. Er ließ die Tür in solchen Fällen immer auf, damit Azzie hinausgehen konnte, wenn er wollte. Das tat er normalerweise nämlich, sobald Dan auftauchte, um die Sache zu übernehmen.
»Eleanor, möchten Sie vielleicht ein Glas kalten Saft?«
»Ja, aber dafür ist keine …«, sagte sie, und dann rann das Leben aus ihrem Gesicht wie Wasser aus einem Becken mit einem Loch darin. Ihre Augen richteten sich auf einen Punkt über Dans Kopf, ihr Mund öffnete sich. Die Wangen erschlafften, und das Kinn fiel fast bis zu ihrer dürren Brust herab. Auch der obere Teil der Zahnprothese fiel herab, schob sich über die Unterlippe und blieb dort hängen, wodurch ein beunruhigendes Grinsen entstand.
Scheiße, das ging aber schnell.
Behutsam schob er einen Finger unter die Prothese und holte sie samt dem Unterteil heraus. Dabei wurde die Lippe der Toten herausgezogen, bis sie mit einem leisen Plipp wieder zurückzuckte. Dan legte die Prothese auf den Nachttisch und wollte schon aufstehen, setzte sich jedoch gleich wieder hin. Er wartete auf den roten Dunst, den jene alte Krankenschwester aus Tampa als letzten Hauch bezeichnete, aber den Eindruck erweckte, als würde etwas eingesogen statt ausgestoßen. Aber dieser Dunst kam nicht.
Sie müssen nur warten.
Na gut, das konnte er tun, zumindest eine Weile. Er tastete nach Abra, fand jedoch nichts. Womöglich war das gut so, weil es hieß, dass sie nun bereits darauf achtgab, ihre Gedanken zu schützen. Vielleicht war jedoch auch seine eigene Fähigkeit – seine Sensibilität – verschwunden. Falls Letzteres der Fall war, war es ohne Belang. Sie würde wiederkommen. Das hatte sie immer getan, unabhängig von den Umständen.
Er überlegte wie schon oft, wieso er auf dem Gesicht der Hospizbewohner nie irgendwelche Fliegen gesehen hatte. Vielleicht weil das nicht nötig war, schließlich hatte er Azzie. Sah Azzie mit seinen klugen grünen Augen etwas? Vielleicht keine Fliegen, aber doch etwas anderes? Das musste wohl so sein.
Sind das die Stimmen unsrer toten Freunde, oder ist es nur das Grammophon?
Es war heute Abend so still auf diesem Stockwerk, trotz der frühen Stunde. Aus dem Gemeinschaftsraum am Ende des Flurs drangen keinerlei Stimmen. Kein Fernseher und kein Radio lief. Man hörte weder das Quietschen von Pouls Turnschuhen noch die leisen Stimmen von Gina und Andrea vom Stationszimmer her. Kein Telefon läutete. Und seine Armbanduhr …
Dan warf einen Blick darauf. Kein Wunder, dass er ihr leises Ticken nicht hören konnte. Sie war stehen geblieben.
Die Neonleuchte an der Decke ging aus, sodass nur noch Eleanors Nachttischlampe brannte. Dann ging die Neonleuchte wieder an, während die Lampe flackernd erlosch. Auch diese ging wieder an, und dann erloschen die beiden Lampen gemeinsam. An … aus … an.
»Ist da jemand?«
Der Wasserkrug auf dem Nachttisch klapperte und beruhigte sich wieder. Die falschen Zähne, die Dan herausgenommen hatte, gaben ein einzelnes, bedrohliches Klacken von sich. An dem Laken auf Eleanors Bett lief ein merkwürdiges Kräuseln entlang, so als hätte jemand, der darunterlag, sich vor Schreck plötzlich bewegt. Ein warmer Windhauch drückte einen Kuss auf Dans Wange und war wieder fort.
» Wer ist da?« Sein Herzschlag blieb regelmäßig, aber er konnte es im Hals und in den Handgelenken spüren. Die Härchen in seinem Nacken fühlten sich dick und aufgerichtet an. Mit einem Mal wusste er, was Eleanor in ihren letzten Momenten gesehen hatte: ein Defilee von
(Geisterleuten)
Toten, die durch die eine Wand in ihr Zimmer gekommen waren und es durch die andere wieder verlassen hatten. Sie waren weitergezogen. Von Seferis hatte er zwar nie gehört, aber er kannte einen Vers von W. H. Auden: Der Tod holt sie alle, die Geldschwimmer, die Spaßmacher und die gut Bestückten. Die hatte Eleanor alle gesehen, und sie waren jetzt noch im …
Aber das waren sie gar nicht. Er wusste, dass sie nicht mehr im Zimmer waren. Die Geister, die Eleanor gesehen hatte, waren fort, und sie hatte sich ihrem Defilee angeschlossen. Ihm jedoch hatte man gesagt, er
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