Doctor Sleep (German Edition)
falls ihr zu den unglückseligen Menschen gehören solltet, die ein Kind verloren haben – nichts mehr da als ein Fahrrad auf dem unbebauten Grundstück am anderen Ende der Straße oder eine kleine Mütze, die zwischen den Sträuchern am Ufer eines nahen Flusses liegt –, habt ihr wahrscheinlich nicht an die gedacht. Wieso auch? Nein, das war wahrscheinlich irgendein Landstreicher. Oder (eine schlimmere, aber fürchterlich plausible Überlegung) irgendein krankes Arschloch aus eurer eigenen Stadt, vielleicht sogar aus eurem eigenen Viertel, vielleicht sogar aus eurer eigenen Straße, irgendein mordlüsterner Perversling, dem es wunderbar gelingt, völlig normal auszusehen, und der weiterhin allen normal vorkommen wird, bis jemand einen Haufen Knochen findet, den der Kerl in seinem Keller verstaut oder in seinem Garten vergraben hat. An die Wohnmobilleute denkt ihr nie, an diese mittelalterlichen Rentner und diese vergnügten alten Knacker mit ihren Golfhüten und ihren Sonnenvisieren, auf denen Blümchen appliziert sind.
Und meistens habt ihr recht. Es gibt Tausende von Wohnmobilleuten, aber im Jahr 2011 war in Amerika nur noch ein einziger Knoten übrig: der Wahre Knoten. Seine Mitglieder zogen gern durch die Lande, und das traf sich gut, weil sie sich so verhalten mussten. Wären sie an einem Ort geblieben, hätten sie irgendwann Aufmerksamkeit erregt, weil sie nämlich nicht wie andere Leute altern. Zum Beispiel hat es den Anschein, als würden Apron Annie, die so heißt, weil sie ein Faible für Schürzenkleider hat, oder Dirty Phil (Tölpelnamen Anne Lamont und Phil Caputo) über Nacht zwanzig Jahre älter werden. Oder als wären die Little-Zwillinge (Pea und Pod) schlagartig nicht mehr zweiundzwanzig, sondern zwölf (in etwa), das Alter, in dem sie ihre Umwandlung durchgemacht haben, aber das ist schon lange her. Das einzige Mitglied des Knotens, das tatsächlich jung ist, ist Andrea Steiner, inzwischen als Snakebite Andi bekannt … und selbst die ist nicht so jung, wie sie aussieht.
Eine klapperige, mürrische alte Dame von achtzig Jahren wird plötzlich wieder sechzig. Ein zerknautschter alter Kerl Anfang siebzig kann seine Krücke weglegen; die Hauttumore auf seinen Armen und seinem Gesicht verschwinden.
Black-Eyed Susie verliert ihr ruckartiges Hinken.
Diesel-Doug, gerade noch halbblind vom grauen Star, bekommt scharfe Augen, und die kahle Stelle auf seinem Kopf ist fort. Urplötzlich ist er – Simsalabim! – wieder fünfundvierzig.
Der krumme Rücken von Steamhead Steve richtet sich auf. Seine Frau, Baba the Red, wirft ihre unbequemen Inkontinenzslips in den Mülleimer, schlüpft in ihre mit Strass besetzten Cowboystiefel und sagt, sie will wieder mal zum Line Dance gehen.
Hätten die Leute Zeit, solche Veränderungen zu beobachten, so würden sie sich wundern, und ruck, zuck gäbe es Gerede. Irgendwann würde ein Reporter auftauchen, und der Wahre Knoten scheut die Öffentlichkeit ebenso, wie Vampire angeblich das Sonnenlicht scheuen.
Aber da seine Mitglieder nicht ständig am selben Ort leben (und wenn sie längere Zeit in einer ihrer Firmenstädte bleiben, halten sie Abstand), fallen sie nicht auf. Wieso sollten sie? Sie tragen dieselben Klamotten wie die anderen Wohnmobilleute, sie tragen dieselben billigen Sonnenbrillen, sie kaufen dieselben Souvenir-T-Shirts und konsultieren dieselben AAA -Straßenkarten. Sie kleben dieselben Sticker auf ihre Bounders und Winnebagos, um zu zeigen, welch interessante Orte sie besucht haben ( ICH HAB IN CHRISTMASLAND DEN GRÖSSTEN BAUM DER WELT GESTUTZT! ), und wenn man hinter ihnen festhängt und auf eine Chance wartet, sie zu überholen, stiert man immer auf dieselben Stoßstangenaufkleber ( ALT, ABER NICHT TOT; RETTET MEDICARE; ICH BIN KONSERVATIV UND ICH GEHE WÄHLEN !! ). Sie essen panierte Hähnchenteile vom Colonel und kaufen gelegentlich Rubbellose in jener Sorte von Supermärkten, die Bier, Fischköder, Munition, Autozeitschriften und zehntausend verschiedene Sorten Schokoriegel führen. Ist in einer Stadt, in der sie Station machen, ein Bingo-Saal, so gehen wahrscheinlich ein paar von ihnen hin, nehmen einen Tisch in Beschlag und spielen, bis das letzte Coverall-Spiel gelaufen ist. Bei einem solchen Spiel hat Greedy G (Tölpelname Greta Moore und bekannt für ihre Unersättlichkeit) einmal fünfhundert Dollar gewonnen. Damit brüstete sie sich monatelang, und obwohl die Mitglieder des Knotens mehr als genug Geld zur Verfügung haben, haben sich
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