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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Wichtigkeit: die Aufgabe der Organisation. Organisation ist alles. Ohne sie gibt es überhaupt nichts, am wenigsten Kunst. Und nun war es die ästhetische Subjektivität, die sich der Aufgabe annahm; sie machte sich anheischig, das Werk aus sich heraus, in Freiheit, zu organisieren.«
    »Du denkst an Beethoven.«
    »An ihn und an das technische Prinzip, durch das die herrische Subjektivität sich der musikalischen Organisation bemächtigte, also die Durchführung. Die Durchführung war ein kleiner Teil der Sonate gewesen, eine bescheidene Freistatt subjektiver Beleuchtung und Dynamik. Mit Beethoven wird sie universell, wird zum Zentrum der gesamten Form, die, auch wo sie als Konvention vorgegeben bleibt, vom Subjektiven absorbiert und in Freiheit neu erzeugt wird. Die Variation, also etwas Archaisches, ein Residuum, wird zum Mittel spontaner Neuschöpfung der Form. Die variative Durchführung breitet {279} sich über die ganze Sonate aus. Sie tut das bei Brahms, als thematische Arbeit, noch durchgreifender und umfassender. Nimm ihn als Beispiel dafür, wie Subjektivität in Objektivität sich wandelt! Bei ihm entäußert sich die Musik aller konventionellen Floskeln, Formeln und Rückstände und erzeugt sozusagen die Einheit des Werks jeden Augenblick neu, aus Freiheit. Aber gerade damit wird die Freiheit zum Prinzip allseitiger Ökonomie, das der Musik nichts Zufälliges läßt und noch die äußerste Mannigfaltigkeit aus identisch festgehaltenen Materialien entwickelt. Wo es nichts Unthematisches mehr gibt, nichts, was sich nicht als Ableitung eines immer Gleichen ausweisen könnte, da läßt sich kaum noch von freiem Satze sprechen …«
    »Aber auch nicht von strengem im alten Sinn.«
    »Alt oder neu, ich werde dir sagen, was ich unter strengem Satz verstehe. Ich meine damit die vollständige Integrierung aller musikalischen Dimensionen, ihre Indifferenz gegen einander kraft vollkommener Organisation.«
    »Siehst du einen Weg dazu?«
    »Weißt du«, fragte er dagegen, »wo ich einem strengen Satz am nächsten war?«
    Ich wartete. Er sprach bis zur Schwerverständlichkeit leise und zwischen den Zähnen, wie er zu tun pflegte, wenn er Kopfschmerzen hatte.
    »Einmal im Brentano-Zyklus«, sagte er, »im ›O lieb Mädel‹. Das ist ganz aus einer Grundgestalt, einer vielfach variablen Intervallreihe, den fünf Tönen h–e–a–e–es abgeleitet, Horizontale und Vertikale sind davon bestimmt und beherrscht, soweit das eben bei einem Grundmotiv von so beschränkter Notenzahl möglich ist. Es ist wie ein Wort, ein Schlüsselwort, dessen Zeichen überall in dem Lied zu finden sind und es gänzlich determinieren möchten. Es ist aber ein zu kurzes Wort und in sich zu wenig beweglich. Der Tonraum, den es bietet, ist zu {280} beschränkt. Man müßte von hier aus weitergehen und aus den zwölf Stufen des temperierten Halbton-Alphabets größere Wörter bilden, Wörter von zwölf Buchstaben, bestimmte Kombinationen und Interrelationen der zwölf Halbtöne, Reihenbildungen, aus denen das Stück, der einzelne Satz oder ein ganzes mehrsätziges Werk strikt abgeleitet werden müßte. Jeder Ton der gesamten Komposition, melodisch und harmonisch, müßte sich über seine Beziehung zu dieser vorbestimmten Grundreihe auszuweisen haben. Keiner dürfte wiederkehren, ehe alle anderen erschienen sind. Keiner dürfte auftreten, der nicht in der Gesamtkonstruktion seine motivische Funktion erfüllte. Es gäbe keine freie Note mehr. Das würde ich strengen Satz nennen.«
    »Ein frappierender Gedanke«, sagte ich. »Rationale Durchorganisation dürfte man das schon nennen. Eine außerordentliche Geschlossenheit und Stimmigkeit, eine Art von astronomischer Gesetzmäßigkeit und Richtigkeit wäre damit gewonnen. Aber, wenn ich's mir vorstelle, – das unveränderte Abspielen einer solchen Intervallreihe, wenn auch noch so wechselnd gesetzt und rhythmisiert, würde wohl unvermeidlich eine arge Verdürftigung und Stagnation der Musik erzeugen.«
    »Wahrscheinlich«, antwortete er mit einem Lächeln, das anzeigte, daß er auf das Bedenken vorbereitet gewesen war. Es war das Lächeln, das die Ähnlichkeit mit seiner Mutter stark hervortreten ließ, aber in einer mir vertrauten mühsamen Art hervorgebracht, wie es ihm eben unter Migränedruck gelingen wollte.
    »Es geht auch so einfach nicht. Man müßte alle Techniken der Variation, auch die als künstlich verschrieenen, ins System aufnehmen, also das Mittel, das einmal der Durchführung zur

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