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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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dabei dramaturgisch entbehrlich. Zusammenziehungen waren auf jeden Fall unvermeidlich. Ein Lustspiel darf nicht vier Stunden dauern, – das war und blieb der Haupt-Einwand gegen die »Meistersinger«. Aber Adrian schien gerade die »Old sayings« der Rosaline und des Boyet, das »Thou can'st not hit it, hit it, hit it« etc. für die Kontrapunktik der Ouvertüre vorgesehen zu haben und feilschte überhaupt um jede Episode, obgleich er lachen mußte, als ich sagte, daß er mich an Kretzschmars Beißel und seinen naiven Eifer erinnere, die halbe Welt unter Musik zu setzen. Übrigens leugnete er, sich durch den Vergleich geniert zu fühlen. Von der humoristischen Hochachtung, die er schon beim ersten Hörensagen für den wunderlichen Neubeginner und Gesetzgeber der Musik empfunden habe, sei immer etwas in ihm hängen geblieben. Absurd zu sagen, aber er habe nie ganz aufgehört, an ihn zu denken und denke neuerdings öfter an ihn, als je.
    »Erinnere dich nur«, sagte er, »wie ich damals gleich seine tyrannische Kinderei mit den Herren- und Dienertönen gegen deinen Vorwurf des albernen Rationalismus verteidigte. Was mir instinktiv daran gefiel, war selbst etwas Instinktives, und mit dem Geist der Musik naiv Übereinstimmendes: der Wille, der sich auf komische Art darin andeutete, irgend etwas wie einen strengen Satz zu konstituieren. Auf anderer, weniger kindlicher Ebene hätten wir seinesgleichen heute so nötig, wie seine Schäfchen damals ihn nötig hatten, – einen Systemherrn brauchten wir, einen Schulmeister des Objektiven und der Organisation, genial genug, das Wiederherstellende, ja, das Archaische mit dem Revolutionären zu verbinden. Man sollte …«
    {277} Er mußte lachen.
    »Ich spreche schon ganz wie Schildknapp. Man sollte. Was sollte man nicht alles!«
    »Was du da sagst«, warf ich ein, »von dem archaisch-revolutionären Schulmeister, hat etwas sehr Deutsches.«
    »Ich nehme an«, erwiderte er, »daß du das Wort nicht zum Lobe, sondern eben nur kritisch charakterisierenderweise brauchst, wie es sich gehört. Es könnte aber außerdem etwas zeitlich Notwendiges ausdrücken, etwas Remedurverheißendes in einer Zeit der zerstörten Konventionen und der Auflösung aller objektiven Verbindlichkeiten, kurzum einer Freiheit, die anfängt, sich als Meltau auf das Talent zu legen und Züge der Sterilität zu zeigen.«
    Ich erschrak bei diesem Wort. Schwer zu sagen, warum, aber es hatte in seinem Munde, überhaupt im Zusammenhange mit ihm, etwas Apprehensives für mich, etwas, worin Bangigkeit sich eigentümlich mit Ehrerbietung mischte. Dies rührte daher, daß in seiner Nähe Sterilität, drohende Lähmung und Unterbindung der Produktivität nur als etwas beinahe Positives und Stolzes, nur zusammen mit hoher und reiner Geistigkeit zu denken war.
    »Es wäre tragisch«, sagte ich, »wenn Unfruchtbarkeit je das Ergebnis der Freiheit sein sollte. Es ist doch immer die Hoffnung auf die Entbindung produktiver Kräfte, um derentwillen Freiheit erobert wird!«
    »Wahr«, erwiderte er. »Und sie leistet auch eine Weile, was man sich von ihr versprach. Aber Freiheit ist ja ein anderes Wort für Subjektivität, und eines Tages hält die es nicht mehr mit sich aus, irgendwann verzweifelt sie an der Möglichkeit, von sich aus schöpferisch zu sein und sucht Schutz und Sicherheit beim Objektiven. Die Freiheit neigt immer zum dialektischen Umschlag. Sie erkennt sich selbst sehr bald in der Gebundenheit, erfüllt sich in der Unterordnung unter Gesetz, Regel, {278} Zwang, System – erfüllt sich darin, das will sagen: hört darum nicht auf, Freiheit zu sein.«
    »Ihrer Meinung nach«, lachte ich. »Soviel sie weiß! Aber in Wirklichkeit ist sie doch dann nicht Freiheit mehr, so wenig, wie die aus der Revolution geborene Diktatur noch Freiheit ist.«
    »Bist du dessen sicher?« fragte er. »Übrigens ist das ein politisch Lied. In der Kunst jedenfalls verschränken das Subjektive und Objektive sich bis zur Ununterscheidbarkeit, eines geht aus dem andern hervor und nimmt den Charakter des anderen an, das Subjektive schlägt sich als Objektives nieder und wird durch das Genie wieder zur Spontaneität erweckt, – ›dynamisiert‹, wie wir sagen; es redet auf einmal die Sprache des Subjektiven. Die heute zerstörten musikalischen Konventionen waren nicht allezeit gar so objektiv, so äußerlich auferlegt. Sie waren Verfestigungen lebendiger Erfahrungen und erfüllten als solche lange eine Aufgabe von vitaler

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