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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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Herrschaft über die Sonate verhalf. Ich frage mich, wozu ich so lange unter Kretzschmar die alten kontrapunktischen Prakti {281} ken geübt und soviel Notenpapier mit Umkehrungsfugen, Krebsen und Umkehrungen des Krebses vollgeschrieben habe. Nun also, alldas wäre zur sinnreichen Modifizierung des Zwölftönewortes nutzbar zu machen. Außer als Grundreihe könnte es so Verwendung finden, daß jedes seiner Intervalle durch das in der Gegenrichtung ersetzt wird. Ferner könnte man die Gestalt mit dem letzten Ton beginnen und mit dem ersten schließen lassen, dann auch diese Form wieder in sich umkehren. Da hast du vier Modi, die sich ihrerseits auf alle zwölf verschiedenen Ausgangstöne der chromatischen Skala transponieren lassen, so daß die Reihe also in achtundvierzig verschiedenen Formen für eine Komposition zur Verfügung steht und was sonst noch für Variationsscherze sich anbieten mögen. Eine Komposition kann auch zwei oder mehrere Reihen als Ausgangsmaterial benutzen, nach Art der Doppel- und Tripelfuge. Das Entscheidende ist, daß jeder Ton darin, ohne jede Ausnahme, seinen Stellenwert hat in der Reihe oder einer ihrer Ableitungen. Das würde gewährleisten, was ich die Indifferenz von Harmonik und Melodik nenne.«
    »Ein magisches Quadrat«, sagte ich. »Aber hast du Hoffnung, daß man das alles auch hören wird?«
    »Hören?« erwiderte er. »Erinnerst du dich an einen gewissen gemeinnützigen Vortrag, der uns einmal gehalten wurde, und aus dem hervorging, daß man in der Musik durchaus nicht alles hören muß? Wenn du unter ›Hören‹ die genaue Realisierung der Mittel im Einzelnen verstehst, durch die die höchste und strengste Ordnung, eine sternensystemhafte, eine kosmische Ordnung und Gesetzlichkeit zustande kommt, nein, so wird man's nicht hören. Aber diese Ordnung wird oder würde man hören, und ihre Wahrnehmung würde eine ungekannte ästhetische Genugtuung gewähren.«
    »Sehr merkwürdig«, sagte ich, »wie du die Sache beschreibst, läuft sie auf eine Art von Komponieren vor dem Komponieren {282} hinaus. Die ganze Material-Disposition und -Organisation müßte ja fertig sein, wenn die eigentliche Arbeit beginnen soll, und es fragt sich nur, welches die eigentliche ist. Denn diese Zubereitung des Materials geschähe ja durch Variation, und die Produktivität der Variation, die man das eigentliche Komponieren nennen könnte, wäre ins Material zurückverlegt – samt der Freiheit des Komponisten. Wenn er ans Werk ginge, wäre er nicht mehr frei.«
    »Gebunden durch selbstbereiteten Ordnungszwang, also frei.«
    »Nun ja, die Dialektik der Freiheit ist unergründlich. Aber als Gestalter der Harmonik wäre er kaum frei zu nennen. Bliebe die Akkordbildung nicht dem Geratewohl, dem blinden Verhängnis überlassen?«
    »Sage lieber: der Konstellation. Die polyphone Würde jedes akkordbildenden Tons wäre durch die Konstellation gewährleistet. Die geschichtlichen Ergebnisse, die Emanzipation der Dissonanz von ihrer Auflösung, das Absolutwerden der Dissonanz, wie es sich schon an manchen Stellen des späten Wagner-Satzes findet, würde jeden Zusammenklang rechtfertigen, der sich vor dem System legitimieren kann.«
    »Und wenn die Konstellation das Banale ergäbe, die Konsonanz, Dreiklangharmonik, das Abgenutzte, den verminderten Septimakkord?«
    »Das wäre eine Erneuerung des Verbrauchten durch die Konstellation.«
    »Ich sehe da ein wiederherstellendes Element in deiner Utopie. Sie ist sehr radikal, aber sie lockert das Verbot, das doch eigentlich schon über die Konsonanz verhängt war. Das Zurückgehen auf die altertümlichen Formen der Variation ist ein ähnliches Merkmal.«
    »Interessantere Lebenserscheinungen«, erwiderte er, »haben wohl immer dies Doppelgesicht von Vergangenheit und Zu {283} kunft, wohl immer sind sie progressiv und regressiv in einem. Sie zeigen die Zweideutigkeit des Lebens selbst.«
    »Ist das nicht eine Verallgemeinerung?«
    »Wovon?«
    »Von häuslichen nationalen Erfahrungen?«
    »Oh, keine Indiskretionen. Und keine Selbstgratulation! Alles, was ich sagen will, ist, daß deine Einwände – wenn sie als Einwände gemeint sind – nicht zählen würden gegen die Erfüllung des uralten Verlangens, was immer klingt, ordnend zu erfassen und das magische Wesen der Musik in menschliche Vernunft aufzulösen.«
    »Du willst mich bei meiner Humanistenehre nehmen«, sagte ich. »Menschliche Vernunft! Und dabei, entschuldige, ist ›Konstellation‹ dein drittes Wort. Es

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