Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
Horizont, den jedes Leben braucht, um Werte zu entwickeln, an welchen, so relativ sie seien, der Charakter, die Fähigkeiten sich bewähren. Sie können das {71} menschlicherweise aber nur, wenn die Relativität unerkannt bleibt. Der Glaube an absolute Werte, illusionär wie er immer sei, scheint mir eine Lebensbedingung. Meines Freundes Gaben dagegen maßen sich an Werten, deren Relativität ihm offen zu liegen schien, ohne daß eine Bezugsmöglichkeit sichtbar gewesen wäre, die sie als Werte herabgesetzt hätte. Schlechte Schüler gibt es genug. Adrian aber bot das singuläre Phänomen des schlechten Schülers
in Primusgestalt
. Ich sage, daß mich das ängstigte; aber wie imponierend, wie anziehend erschien es mir doch auch wieder, wie verstärkte es meine Hingabe an ihn, der es freilich – wird man verstehen, warum? – auch etwas wie Schmerz, wie Hoffnungslosigkeit beimischte.
    Ich will eine Ausnahme zulassen an der Regel ironischer Geringschätzung, die er den Gaben und Ansprüchen der Schule entgegenbrachte. Es war sein augenscheinliches Interesse an einer Disziplin, in der ich mich wenig hervortat, der Mathematik. Meine eigene Schwäche auf diesem Felde, die nur durch freudige Tüchtigkeit im Philologischen leidlich kompensiert wurde, ließ mich so recht erkennen, daß vortreffliche Leistungen auf einem Gebiet natürlicherweise durch die Sympathie mit dem Gegenstande bedingt sind, und darum war es mir eine wahre Wohltat, diese Bedingung wenigstens hier auch bei meinem Freunde erfüllt zu sehen. Es nimmt ja die Mathese, als angewandte Logik, die sich dennoch im rein und hoch Abstrakten hält, eine eigentümliche Mittelstellung zwischen den humanistischen und den realistischen Wissenschaften ein, und aus den Erläuterungen, die Adrian mir gesprächsweise von dem Vergnügen gab, das sie ihm bereitete, ging hervor, daß er diese Zwischenstellung zugleich als erhöht, dominierend, universell empfand, oder, wie er sich ausdrückte, als »das Wahre«. Es war eine Herzensfreude, ihn etwas als »das Wahre« bezeichnen zu hören, es war ein Anker, ein Halt, nicht ganz vergebens mehr fragte man sich nach der »Hauptsache«. »Du bist ein Bären {72} häuter«, sagte er damals zu mir, »das nicht zu mögen. Ordnungsbeziehungen anzuschauen ist doch schließlich das beste. Die Ordnung ist alles. Römer dreizehn: ›Was von Gott ist, das ist geordnet.‹« Er errötete, und ich sah ihn groß an. Es stellte sich heraus, daß er religiös war.
    Bei ihm mußte alles sich erst »herausstellen«, bei allem mußte man ihn betreffen, überraschen, ertappen, ihm hinter die Briefe kommen, – und dann errötete er, während man selbst sich hätte vor den Kopf schlagen mögen, weil man das nicht längst gesehen. Auch dabei, daß er über Pflicht und Nötigung hinaus Algebra trieb, zum Vergnügen die Logarithmentafel handhabte, über Gleichungen zweiten Grades saß, bevor man noch von ihm verlangt hatte, potenzierte Unbekannte zu identifizieren, auch dabei betraf ich ihn nur durch Zufall, und er wollte erst schnöde davon reden, bevor er sich zu den obigen Äußerungen verstand. Eine andere Entdeckung, um nicht zu sagen: Entlarvung, war dieser bereits vorangegangen; ich erwähnte sie schon im voraus: es war die seiner autodidaktischen und heimlichen Auskundschaftung der Klaviatur, der Akkordik, der Windrose der Tonarten, des Quintenzirkels, und daß er, ohne Notenkenntnis, ohne Fingersatz, diese harmonischen Funde zu allerlei Modulationsübungen und zum Aufbau rhythmisch recht unbestimmter melodischer Gebilde benutzte. Als ich's entdeckte, war er im Fünfzehnten. Nachdem ich ihn eines Nachmittags in seinem Zimmer vergebens gesucht, fand ich ihn vor einem kleinen Harmonium, das in einem Durchgangszimmer des Wohngeschosses seinen ziemlich unbeachteten Platz hatte. Eine Minute vielleicht hatte ich an der Tür stehend ihm zugehört, mißbilligte aber diesen Zustand und trat heran, indem ich ihn fragte, was er da treibe. Er ließ die Bälge ruhen, nahm die Hände vom Manuale und errötete lachend.
    »Müßiggang«, sagte er, »ist aller Laster Anfang. Ich langweil {73} te mich. Wenn ich mich langweile, bastle und stümpere ich hier zuweilen herum. Der alte Tretkasten steht so verlassen, hat aber bei aller Demut das Ganze in sich. Schau, es ist kurios, – das heißt, natürlich ist nichts Kurioses daran, aber wenn man es selber zum ersten Male so ausmacht, ist es kurios, wie das alles zusammenhängt und im Kreise herumführt.«
    Und

Weitere Kostenlose Bücher