Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
verzichtete, mit der Begründung, daß die Vorträge bildungswichtig und dem Gemeinnutzen dienlich seien. Das war eine freundschaftliche Begünstigung, denn über den Gemeinnutz ließ sich streiten, schon weil die Gemeinde ausblieb, was aber, wie gesagt, zum Teil auch auf das allzu Spezielle der behandelten Gegenstände zurückzuführen war. Wendell Kretzschmar huldigte dem Grundsatz, den wir wiederholt aus seinem zuerst von der englischen Sprache geformten Munde vernahmen, daß es nicht auf das Interesse der anderen, sondern auf das eigene ankomme, also darauf, Interesse zu
erregen
, was nur geschehen könne, dann aber auch mit Sicherheit geschehe, wenn man sich selbst für eine Sache von Grund aus interessiere und also, indem man davon spreche, schwerlich umhinkönne, andere in dies Interesse hineinzuziehen, sie damit anzustecken und so ein gar nicht vorhanden gewesenes, ein ungeahntes Interesse zu
creieren
, was viel besser lohne, als einem schon bestehenden gefällig zu sein.
    Es war sehr zu bedauern, daß unser Publikum ihm fast keine Gelegenheit gewährte, seine Theorie zu erproben. Bei uns Wenigen, die wir in der gähnenden Leere des alten Saales mit den numerierten Stühlen zu seinen Füßen saßen, bewährte sie sich vollkommen, denn er fesselte uns mit Dingen, von denen wir nie gedacht hätten, daß sie so unsere Aufmerksamkeit hinnehmen könnten, und selbst sein furchtbares Stottern wirkte am Ende dabei nur als erregend bannender Ausdruck seines Eifers. Öfters nickten wir alle zusammen ihm tröstlich zu, wenn die Kalamität sich ereignete, und einer oder der andere der Herren ließ wohl auch ein beruhigend zusprechendes »So, so«, »Schon gut«, oder »Macht nichts!« vernehmen. Dann löste sich unter einem heiter entschuldigenden Lächeln die Lähmung, und in auch wieder nicht geheurer Flottheit ging es eine Weile dahin.
    Worüber er sprach? Nun, der Mann war imstande, eine ganze Stunde der Frage zu widmen, »warum Beethoven zu der {79} Klaviersonate opus 111 keinen dritten Satz geschrieben habe«, – ein besprechenswerter Gegenstand, ohne Zweifel. Aber man denke sich die Anzeige angeschlagen am Hause der »Gemeinnützigen Thätigkeit«, eingerückt in die Kaisersascherner »Eisenbahnzeitung«, und frage sich dann nach dem Maß von öffentlicher Neugier, die sie erregen konnte. Man wollte schlechterdings nicht wissen, warum Opus 111 nur zwei Sätze habe. Wir, die wir uns zu der Erörterung einfanden, hatten freilich einen ungemein bereichernden Abend, und dies, obgleich uns die in Rede stehende Sonate bis dato ganz unbekannt gewesen war. Jedoch lernten wir sie durch diese Veranstaltung eben kennen, und zwar sehr genau, da Kretzschmar sie auf dem recht minderen Pianino, das ihm zur Verfügung stand (ein Flügel war nicht bewilligt worden) vortrefflich, wenn auch mit schollerndem Klange, zu Gehör brachte, zwischendurch aber ihren seelischen Inhalt, mit Beschreibung der Lebensumstände, unter denen sie – nebst zwei anderen – verfaßt worden, mit großer Eindringlichkeit analysierte und sich mit kaustischem Witz über des Meisters eigene Erklärung erging, warum er auf einen dritten, mit dem ersten korrespondierenden Satz hier verzichtet habe. Er hatte nämlich dem Famulus auf seine Frage geantwortet, daß er
keine Zeit
gehabt und darum lieber den zweiten etwas länger ausgedehnt habe. Keine Zeit! Und mit »Gelassenheit« hatte er es auch noch geäußert. Die in solcher Antwort liegende Geringschätzung des Fragers war offenbar nicht bemerkt worden, aber sie war gerechtfertigt durch die Frage. Und nun schilderte der Redner Beethovens Zustand um das Jahr 1820, als sein Gehör, von einer unhemmbaren Auszehrung befallen, schon in fortschreitender Verödung begriffen gewesen war und bereits sich herausgestellt hatte, daß er Aufführungen der eigenen Werke zu leiten, fortan nicht mehr imstande sei. Er erzählte uns, wie damals das Gerücht, der berühmte Autor sei völlig ausgeschrieben, seine Produktions {80} kraft erschöpft, er beschäftige sich, zu größeren Arbeiten unfähig, wie der alte Haydn nur noch damit, schottische Lieder aufzuschreiben, immer mehr an Boden gewonnen habe, weil nämlich seit einigen Jahren schon kein Werk von Bedeutung, das seinen Namen trug, mehr auf den Markt gekommen war. Allein im Spätherbst von Mödling, wo er den Sommer verbracht, nach Wien zurückgekehrt, habe der Meister sich niedergesetzt und jene drei Kompositionen für das Pianoforte, sozusagen ohne nur einmal

Weitere Kostenlose Bücher