Doktor Faustus
beiseite, sah etwas anderes an, als wovon gesprochen wurde und ließ mich mit dem Gehilfen allein. Ich will nicht sagen, daß er sich verstellte und vergesse nicht, daß die Musik zu jener Zeit noch kaum eine andere Wirklichkeit für uns hatte als eben die rein körperliche von Nikolaus Leverkühns Rüstkammern. Zwar waren wir flüchtig schon mit Kammermusik in Berührung gekommen: acht- bis vierzehntägig wurde sie bei Adrians Onkel, nur gelegentlich in meiner Gegenwart und keineswegs immer in seiner, geübt. Es fanden sich dazu unser Dom-Organist, Herr Wendell Kretzschmar, ein Stotterer, der nur wenig später Adrians Lehrer werden {69} sollte, ferner der Singemeister des Bonifatius-Gymnasiums ein, und mit ihnen exekutierte der Oheim ausgewählte Quartette von Haydn und Mozart, wobei er selber die Primgeige, Luca Cimabue die zweite, Herr Kretzschmar das Cello und der Gesangslehrer die Bratsche spielte. Es waren das Herrenunterhaltungen, bei denen man sein Bierglas neben sich am Boden stehen, wohl auch die Zigarre im Munde hatte, und die durch öfteres Zwischenreden, wie es sich in die Sprache der Töne hinein so sonderbar trocken und fremd ausnimmt, Aufklopfen des Bogens und Rückwärtszählen der Takte unterbrochen wurden, wenn man, fast immer durch die Schuld des Singemeisters, auseinandergekommen war. Ein wirkliches Konzert, ein Symphonie-Orchester hatten wir nie gehört, und das mag, wer da will, ausreichend finden als Erklärung von Adrians klarer Gleichgültigkeit gegen die Welt der Instrumente. Jedenfalls war er der Meinung, daß man es als ausreichend betrachten müsse und sah es selbst als ausreichend an. Was ich sagen will, ist: er verbarg sich dahinter, verbarg sich vor der Musik. Lange, mit ahnungsvoller Beharrlichkeit, hat dieser Mensch sich vor seinem Schicksal verborgen.
Übrigens dachte noch lange niemand daran, Adrians junge Person mit der Musik in irgendwelche Gedankenverbindung zu bringen. Die Idee, er sei zum Gelehrten bestimmt, saß fest in allen Köpfen und erfuhr fortwährende Bekräftigungen durch seine glänzenden Leistungen als Gymnasiast, seinen Primusstand, der erst in den höheren Klassen, etwa von Ober-Secunda an, als er fünfzehn war, in leises Schwanken geriet, und zwar der Migräne wegen, die sich zu entwickeln begann und ihn an der wenigen Vorbereitung hinderte, deren er bedurfte. Dennoch bewältigte er die Anforderungen der Schule mit Leichtigkeit – schon das Wort »bewältigen« ist nicht wohl gewählt, denn es kostete ihn nichts, ihnen Genüge zu tun, und wenn seine Vorzüglichkeit als Schüler ihm nicht die zärtliche Liebe der {70} Lehrer eintrug – was sie nicht tat, ich habe es oft beobachtet, man merkte eher eine gewisse Gereiztheit, ja den Wunsch, ihm Niederlagen zu bereiten –, so lag das nicht sowohl daran, daß man ihn für dünkelhaft gehalten hätte – oder doch, man hielt ihn dafür, aber nicht, weil man den Eindruck gehabt hätte, er bilde sich auf seine Leistungen allzu viel ein, – im Gegenteil, er bildete sich nicht genug darauf ein, und eben darin bestand sein Hochmut, denn spürbar richtete dieser sich gegen das, womit er so unschwer fertig wurde, gegen den Lehrstoff also, die unterschiedliche Fachkunde, deren Überlieferung die Würde und den Unterhalt der Lehrbeamten ausmachte, und die sie darum begreiflicherweise nicht mit überbegabter Lässigkeit abgetan zu sehen wünschten.
Für meine eigene Person stand ich viel herzlicher mit ihnen – kein Wunder, da ich mich ihnen ja bald beruflich anschließen sollte und diese Absicht auch schon mit Ernst zu erkennen gegeben hatte. Auch ich durfte mich einen guten Schüler nennen, aber ich war es nur und konnte es nur sein, weil ehrerbietige Liebe zur Sache, besonders zu den alten Sprachen und ihren klassischen Dichtern und Schriftstellern meine Kräfte aufrief und spannte, während er bei jeder Gelegenheit merken ließ – will sagen: er machte vor mir kein Hehl daraus, und ich fürchtete mit Recht, daß es auch den Lehrern nicht verborgen blieb – wie gleichgültig und sozusagen nebensächlich ihm das ganze Schulwesen war. Dies ängstigte mich oft – nicht um seiner Karriere willen, die Dank seiner Facilität ungefährdet war, sondern weil ich mich fragte, was ihm denn also
nicht
gleichgültig und
nicht
nebensächlich sei. Ich sah die »Hauptsache« nicht, und wirklich war sie unerkennbar. In diesen Jahren ist das Schulleben das Leben selbst; es steht für dieses; seine Interessen schließen den
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