Doktor Faustus
er ließ einen Akkord ertönen, lauter schwarze Tasten, fis, ais, cis, fügte ein e hinzu und demaskierte dadurch den Akkord, der wie Fis-dur ausgesehen hatte, als zu H-dur gehörig, nämlich als dessen fünfte oder Dominant-Stufe. »So ein Zusammenklang«, meinte er, »hat an sich keine Tonart. Alles ist Beziehung, und die Beziehung bildet den Kreis.« Das a, welches, indem es die Auflösung in gis erzwingt, von H- nach E-dur überleitet, führte ihn weiter, und so kam er über a, d und g nach C-dur und in die mit Verminderungszeichen versehenen Tonarten, indem er mir demonstrierte, daß man auf einem jeden der zwölf Töne der chromatischen Leiter eine eigene Dur- oder Moll-Skala errichten könne.
»Übrigens sind das alte Geschichten«, sagte er. »Es ist länger her, daß mir das auffiel. Paß auf, wie man es feiner macht!« Und er fing an, mir Modulationen zwischen entlegeneren Tonarten zu zeigen, unter Ausnutzung der sogenannten Terzverwandtschaft, der Neapolitanischen Sext.
Nicht, daß er diese Dinge zu nennen gewußt hätte; aber er wiederholte:
»Beziehung ist alles. Und willst du sie näher bei Namen nennen, so ist ihr Name ›Zweideutigkeit‹.« Um dies Wort zu belegen, ließ er mich Akkord-Folgen von schwebender Tonart hören, demonstrierte mir, wie eine solche Folge in tonaler Schwebe zwischen C- und G-dur bleibt, wenn man das f daraus wegläßt, das in G-dur zum fis würde; wie sie das Ohr im Ungewissen hält, ob sie als C- oder F-dur verstanden sein will, wenn man das h vermeidet, das sich in F-dur zum b vermindert.
{74} »Weißt du, was ich finde?« fragte er. »Daß Musik die Zweideutigkeit ist als System. – Nimm den Ton oder den. Du kannst ihn so verstehen oder beziehungsweise auch so, kannst ihn als erhöht auffassen von unten oder als vermindert von oben und kannst dir, wenn du schlau bist, den Doppelsinn beliebig zunutze machen.« Kurz, im Prinzip erwies er sich als kundig der enharmonischen Verwechslung und nicht unkundig gewisser Tricks, wie man damit ausweicht und die Umdeutung zur Modulation benutzt.
Warum war ich mehr als überrascht, nämlich bewegt und auch ein wenig erschrocken? Er hatte erhitzte Wangen, wie er sie bei Schulaufgaben niemals, auch bei der Algebra nicht bekam.
Zwar bat ich ihn, mir doch noch etwas vorzuphantasieren, spürte aber etwas wie Erleichterung, als er es mir mit einem »Unsinn, Unsinn!« abschlug. Was für eine Erleichterung war das? Sie hätte mich lehren können, wie stolz ich auf seine allgemeine Gleichgültigkeit gewesen war, und wie deutlich ich spürte, daß in seinem »Es ist kurios« diese Gleichgültigkeit zur Maske wurde. Ich ahnte eine keimende Leidenschaft, – eine Leidenschaft Adrians! Hätte ich mich freuen sollen? Statt dessen war es mir auf eine Weise beschämend und ängstlich.
Daß er, wenn er sich ohne Zeugen glaubte, musikalisch laborierte, wußte ich nun, und bei dem exponierten Standort des Instruments konnte das auch nicht lange Geheimnis bleiben. Eines Abends sagte sein Pflegevater zu ihm:
»Nun, Neffe, was man da heut von dir hörte, darin hast du dich nicht zum ersten Male geübt.«
»Wie meinst du, Onkel Niko?«
»Wende nicht Unschuld vor! Du musizierst ja.«
»Was für ein Ausdruck!«
»Der hat schon für Dümmeres herhalten müssen. Wie du da so von F- nach A-dur kamst, das war ganz durchtrieben. Macht es dir Spaß?«
{75} »Ach, Onkel.«
»Nun, offenbar. Ich will dir was sagen. Wir wollen doch die alte Kommode, die ohnedies niemand ansieht, zu dir hinauf ins Zimmer stellen. Da ist sie dir dann zur Hand, wann immer du Lust hast.«
»Du bist furchtbar freundlich, Onkel, aber es ist gewiß der Mühe nicht wert.«
»Die Mühe ist so gering, daß vielleicht das Vergnügen immer noch größer ist. Noch eins, Neffe. Du solltest Klavierstunden nehmen.«
»Meinst du, Onkel Niko? Klavierstunden? Ich weiß nicht, es klingt so nach ›höherer Tochter‹.«
»Könnte ja ›höher‹ sein und dabei nicht gerade ›Tochter‹. Wenn du zu Kretzschmar gehst, wird es so was sein. Er wird uns die Hosen nicht ausziehen dafür, aus alter Freundschaft, und du kriegst ein Fundament für deine Luftschlösser. Ich will mit ihm reden.«
Wörtlich gab Adrian mir dies Gespräch auf dem Schulhofe wieder. Von nun an hatte er zweimal die Woche Unterricht bei Wendell Kretzschmar.
VIII
Wendell Kretzschmar, damals noch jung, höchstens zweite Hälfte zwanzig, war von deutsch-amerikanischen Eltern im Staate Pennsylvania gebürtig und hatte
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