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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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seine musikalische Ausbildung im Lande seiner Herkunft empfangen. Aber zeitig schon hatte es ihn in die alte Welt, von wo seine Großeltern einst ausgewandert, und wo, wie seine eigenen, so auch die Wurzeln seiner Kunst lagen, zurückgezogen, und er war im Zuge eines Wanderlebens, dessen Stationen und Aufenthalte selten länger als ein bis zwei Jahre dauerten, als Organist zu uns nach Kaisersaschern gekommen, – es war nur eine Episode, denen andere vorangegangen waren (denn er hatte vorher an {76} kleinen Stadttheatern des Reiches und der Schweiz als Kapellmeister gewirkt), und denen weitere nachfolgen sollten. Auch trat er als Komponist von Orchesterstücken hervor und brachte eine Oper, »Das Marmorbild«, zur Aufführung, die über mehrere Bühnen ging und freundliche Aufnahme fand.
    Von unscheinbarem Äußeren, ein untersetzter Mann mit Rundschädel, einem gestutzten Schnurrbärtchen und gern lachenden braunen Augen von bald sinnendem, bald springendem Blick, hätte er für das geistige, kulturelle Leben von Kaisersaschern einen wahren Gewinn bedeuten können, wenn eben ein solches Leben überhaupt vorhanden gewesen wäre. Sein Orgelspiel war gelehrt und prächtig, aber an den Fingern einer Hand waren diejenigen herzuzählen, die es in der Gemeinde zu würdigen wußten. Immerhin zogen die frei zugänglichen nachmittäglichen Kirchenkonzerte, bei denen er Orgelmusik von Michael Praetorius, Froberger, Buxtehude und natürlich Sebastian Bach auch allerlei kuriose und genrehafte Kompositionen aus der Epoche zwischen Händels und Haydns Blütezeiten zum Besten gab, eine ziemliche Menge an, und Adrian und ich wohnten ihnen regelmäßig bei. Ein völliger Fehlschlag dagegen, wenigstens äußerlich gesehen, waren die Vorträge, die er im Saal der »Gesellschaft für gemeinnützige Thätigkeit« eine Saison hindurch unverdrossen abhielt, und die er mit Erläuterungen am Klavier, dazu mit Kreide-Demonstrationen auf der Staffelei-Tafel begleitete. Ein Mißerfolg waren sie erstens, weil unsere Bevölkerung für Vorträge grundsätzlich nichts übrig hatte, zweitens weil seine Themen auch noch wenig populär, vielmehr kapriziös und ausgefallen waren, und drittens, weil sein Stotterleiden das Zuhören zu einer aufregenden und klippenvollen Fahrt machte, beängstigend teils, teils zum Lachen reizend und geeignet, die Aufmerksamkeit von dem geistig Gebotenen völlig abzulenken und sie in ein ängstlich gespanntes Warten auf das nächste konvulsivische Festsitzen zu verwandeln.
    {77} Es war ein besonders schwer und exemplarisch ausgebildetes Stottern, dem er unterlag, – tragisch, weil er ein Mann von großem, drängendem Gedankenreichtum war, der mitteilenden Rede leidenschaftlich zugetan. Auch glitt sein Schifflein streckenweise geschwind und tänzelnd, mit der unheimlichen Leichtigkeit, die das Leiden verleugnen und in Vergessenheit bringen möchte, auf den Wassern dahin; aber unfehlbar von Zeit zu Zeit, mit Recht von jedermann fortwährend gewärtigt, kam der Augenblick des Auffahrens, und auf die Folter gespannt, mit rot anschwellendem Gesicht, stand er da: sei es, daß ein Zischlaut ihn hemmte, den er mit in die Breite gezerrtem Munde, das Geräusch einer dampflassenden Lokomotive nachahmend, aushielt, oder daß im Ringen mit einem Labiallaut seine Wangen sich aufblähten, seine Lippen sich im platzenden Schnellfeuer kurzer, lautloser Explosionen ergingen; oder endlich auch einfach, daß plötzlich seine Atmung in heillos hapernde Unordnung geriet und er trichterförmigen Mundes nach Luft schnappte wie ein Fisch auf dem Trockenen – mit den gefeuchteten Augen dazu lachend, das ist wahr, er selbst schien die Sache heiter zu nehmen, aber nicht für jedermann war das ein Trost, und im Grunde war es dem Publikum nicht zu verargen, daß es diese Vorlesungen mied: mit dem Grade von Einmütigkeit, daß tatsächlich mehrmals nur etwa ein halbes Dutzend Zuhörer das Parterre belebte, nämlich außer meinen Eltern, Adrians Onkel, dem jungen Cimabue und uns beiden nur noch ein paar Elevinnen der höheren Töchterschule, die es an Gekicher während der Hemmungszustände des Sprechers nicht fehlen ließen.
    Dieser wäre bereit gewesen, die Unkosten für Saal und Beleuchtung, die durch die Eintrittsgelder keineswegs gedeckt wurden, aus eigener Tasche zu bestreiten, aber mein Vater und Nikolaus Leverkühn hatten es im Vorstande durchgesetzt, daß die Gesellschaft für das Defizit aufkam, oder vielmehr auf {78} die Miete

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