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Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
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vom Notenpapier aufzusehen, in einem Zuge niedergeschrieben, auch seinem Gönner, dem Grafen Brunswick, davon Meldung gemacht, um ihn über seinen Geisteszustand zu beruhigen. Und dann sprach Kretzschmar über die Sonate in c-moll, die als in sich gerundetes und seelisch geordnetes Werk zu verstehen, freilich nicht leicht sei und der zeitgenössischen Kritik wie auch den Freunden eine harte ästhetische Nuß zu knacken gegeben habe: wie denn, so sagte er, diese Freunde und Bewunderer dem Verehrten über den Gipfel hinaus, auf den er zur Zeit seiner Reife die Symphonie, die Klaviersonate, das Streichquartett der Klassik geführt, schlechthin nicht hätten folgen können und bei den Werken der letzten Periode schweren Herzens vor einem Prozeß der Auflösung, der Entfremdung, des Entsteigens ins nicht mehr Heimatliche und Geheure, vor einem plus ultra eben, gestanden hätten, worin sie nichts anderes mehr, als eine Ausartung immer vorhanden gewesener Neigungen, einen Exzeß an Grübelei und Spekulation, ein Übermaß an Minutiosität und musikalischer Wissenschaftlichkeit zu erblicken vermocht hätten, – angewandt bisweilen auf einen so einfachen Stoff, wie das Arietta-Thema des ungeheuren Variationensatzes, der den zweiten Teil dieser Sonate bilde. Ja, ebenso, wie das durch hundert Schicksale, hundert Welten rhythmischer Kontraste gehende Thema dieses Satzes sich selbst überwachse und endlich in schwindelnden Höhen, die man jenseitig nennen mochte oder abstrakt, {81} sich verliere, – ebenso habe Beethovens Künstlertum sich selbst überwachsen: aus wohnlichen Regionen der Überlieferung sei es vor erschrocken nachblinzelnden Menschenaugen in Sphären des ganz und gar nur noch Persönlichen aufgestiegen, – ein in Absolutheit schmerzlich isoliertes, durch die Ausgestorbenheit seines Gehörs auch noch vom Sinnlichen isoliertes Ich, der einsame Fürst eines Geisterreichs, von dem nur noch fremde Schauer selbst auf die willigsten Zeitgenossen ausgegangen seien, und in dessen erschreckende Botschaften sie nur noch augenblicks-, nur ausnahmsweise sich zu finden gewußt hätten.
    So weit, so richtig, sagte Kretzschmar. Und richtig doch auch wieder nur bedingungsweis und auf ungenügende Art. Denn mit der Idee des nur Persönlichen verbinde man diejenige der schrankenlosen Subjektivität und des radikalen harmonischen Ausdruckswillens im Gegensatz zur polyphonischen Objektivität (er wünschte, wir möchten uns den Unterschied einprägen: harmonische Subjektivität, polyphonische Sachlichkeit), – und diese Gleichung, dieser Gegensatz wollten hier, wie beim meisterlichen Spätwerk überhaupt, nicht stimmen. Tatsächlich sei Beethoven in seiner Mittelzeit weit subjektivistischer, um nicht zu sagen: weit »persönlicher« gewesen, als zuletzt; weit mehr sei er damals bedacht gewesen, alles Konventionelle, Formel- und Floskelhafte, wovon die Musik ja voll sei, vom persönlichen Ausdruck verzehren zu lassen, es in die subjektive Dynamik einzuschmelzen. Das Verhältnis des späten Beethoven, etwa in den fünf letzten Klaviersonaten, zum Konventionellen sei bei aller Einmaligkeit und selbst Ungeheuerlichkeit der Formensprache ein ganz anderes, viel läßlicheres und geneigteres. Unberührt, unverwandelt vom Subjektiven trete die Konvention im Spätwerk öfters hervor, in einer Kahlheit oder, man möge sagen, Ausgeblasenheit, Ich-Verlassenheit, welche nun wieder schaurig-majestätischer wirke, als jedes persön {82} liche Wagnis. In diesen Gebilden, sagte der Redner, gingen das Subjektive und die Konvention ein neues Verhältnis ein, ein Verhältnis, bestimmt vom Tode.
    Bei diesem Wort stotterte Kretzschmar heftig; festhängend am Anfangslaut, vollführte seine Zunge am Gaumen eine Art von Maschinengewehrfeuer, wobei Kiefer und Kinn mitwirbelten, ehe sie Ruhestand fanden in dem Vokal, der das Gemeinte erraten ließ. Als aber das Wort erkannt war, schien es nicht recht danach angetan, daß man es ihm abnähme, es ihm, wie man sonst zuweilen tat, jovial und hilfreich zuriefe. Er mußte es selbst zustande bringen, und er tat es. Wo Größe und Tod zusammenträten, erklärte er, da entstehe eine der Konvention geneigte Sachlichkeit, die an Souveränität den herrischsten Subjektivismus hinter sich lasse, weil darin das Nur-Persönliche, das doch schon die Überhöhung einer zum Gipfel geführten Tradition gewesen sei, sich noch einmal selbst überwachse, indem es ins Mythische, Kollektive groß und geisterhaft eintrete.
    Er

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