Doktor Faustus
dabei selbst ganz und gar Abschied, zu einem Ruf und Winken des Abschieds wird, mit diesem d-g-g geht eine leichte Veränderung vor, es erfährt eine kleine melodische Erweiterung. Nach einem anlautenden c nimmt es vor dem d ein cis auf, so daß es nun nicht mehr »Him-melsblau« oder »Wie-sengrund«, sondern »O – du Himmelsblau«, »Grü – ner Wiesengrund«, »Leb' – mir ewig wohl« skandiert; und dieses hinzukommende cis ist {85} die rührendste, tröstlichste, wehmütig versöhnlichste Handlung von der Welt. Es ist wie ein schmerzlich liebevolles Streichen über das Haar, über die Wange, ein stiller, tiefer Blick ins Auge zum letzten Mal. Es segnet das Objekt, die furchtbar umgetriebene Formung mit überwältigender Vermenschlichung, legt sie dem Hörer zum Abschied, zum ewigen Abschied so sanft ans Herz, daß ihm die Augen übergehen. »Nun ver-giß der Qual!« heißt es. »Groß war – Gott in uns.« »Alles – war nur Traum.« »Bleib – mir hold gesinnt.« Dann bricht es ab. Schnelle, harte Triolen eilen zu einer beliebigen Schlußwendung, mit der auch manch anderes Stück sich endigen könnte.
Kretzschmar kehrte danach gar nicht mehr vom Pianino zum Rednerpult zurück. Er blieb, uns zugewandt, auf seinem Drehsessel sitzen, in der gleichen Haltung wie wir, vorgebeugt, die Hände zwischen den Knien, und führte so mit wenigen Worten seinen Vortrag über die Frage zu Ende, warum Beethoven zu Opus 111 keinen dritten Satz geschrieben. Wir hätten, sagte er, das Stück nur zu hören brauchen, um uns die Frage selbst beantworten zu können. Ein dritter Satz? Ein neues Anheben – nach diesem Abschied? Ein Wiederkommen – nach dieser Trennung? Unmöglich! Es sei geschehen, daß die Sonate im zweiten Satz, diesem enormen, sich zu Ende geführt habe, zu Ende auf Nimmerwiederkehr. Und wenn er sage: »Die Sonate«, so meine er nicht diese nur, in c-moll, sondern er meine die Sonate überhaupt, als Gattung, als überlieferte Kunstform: sie selber sei hier zu Ende, ans Ende geführt, sie habe ihr Schicksal erfüllt, ihr Ziel erreicht, über das hinaus es nicht gehe, sie hebe und löse sich auf, sie nehme Abschied, – das Abschiedswinken des vom cis melodisch getrösteten d-g-g-Motivs, es sei ein Abschied auch dieses Sinnes, ein Abschied, groß wie das Stück, der Abschied von der Sonate.
Damit ging Kretzschmar, von dünnem, aber anhaltendem Beifall begleitet, und wir gingen auch, nicht wenig nachdenk {86} lich, von Neuigkeiten beschwert. Die meisten, wie das zu sein pflegt, sangen beim Aufnehmen der Mäntel und Hüte und beim Verlassen des Hauses die Einprägung des Abends, das themabildende Motiv des zweiten Satzes, in seiner ursprünglichen und in seiner Abschied nehmenden Gestalt, benommen vor sich hin, und noch längere Zeit hörte man aus entfernteren Gassen, in die die Zuhörer sich zerstreut, nächtlich stillen und widerhallenden Gassen der Kleinstadt, das »Leb' – mir wohl«, »Leb' mir – ewig wohl«, »Groß – war Gott in uns« echohaft herüberschallen. –
Es war nicht das letzte Mal, daß wir den Stotterer über Beethoven gehört hatten. Bald schon sprach er wieder über ihn, diesmal unter dem Titel »Beethoven und die Fuge«. Auch dieses Themas erinnere ich mich genau und sehe es noch als Annonce vor mir, wohl begreifend, daß es so wenig wie das andere danach angetan war, im Saal der »Gemeinnützigen« ein lebensgefährliches Gedränge zu erzeugen. Unser Grüppchen aber hatte auch von diesem Abend den entschiedensten Genuß und Gewinn. Immer nämlich, so hörten wir, hatten die Neider und Gegner des verwegenen Neuerers behauptet, Beethoven könne keine Fuge schreiben. »Das kann er nun einmal nicht«, hatten sie gesagt und wohl gewußt, was sie damit aussprachen, da diese ehrwürdige Kunstform damals noch in hohen Ehren gestanden und kein Komponist vor dem musikalischen Gerichtshof Gnade gefunden, noch den auftraggebenden Potentaten und großen Herren der Zeit genuggetan habe, wenn er nicht auch in der Fuge perfekt seinen Mann gestanden. So sei der Fürst Esterházy ein ausnehmender Freund dieser Meisterkunst gewesen, aber in der Messe in C, die Beethoven für ihn geschrieben, sei der Compositeur über erfolglose Anläufe zu einer Fuge nicht hinausgekommen, was schon rein gesellschaftlich eine Unhöflichkeit, künstlerisch aber ein unverzeihliches Manko gewesen sei; und das Oratorium »Christus am Ölberg« habe {87} überhaupt jeder fugierten Arbeit ermangelt, obgleich
Weitere Kostenlose Bücher