Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Doktor Faustus

Doktor Faustus

Titel: Doktor Faustus Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Thomas Mann
Vom Netzwerk:
sie auch darin aufs höchste am Platze gewesen wäre. Ein so schwacher Versuch wie die Fuge im dritten Quartett aus Opus 59 war nicht danach beschaffen, die Behauptung zu widerlegen, daß der große Mann ein schlechter Kontrapunktiker sei, – in welcher die maßgebend musikalische Welt durch die fugierten Stellen im Trauermarsch der Eroica und im Allegretto der A-dur-Symphonie nur hatte bestärkt werden können. Und nun der Schlußsatz der Cello-Sonate in D, Opus 102, »Allegro fugato« genannt! Das Geschrei und Fäusteschütteln, erzählte Kretzschmar, sei groß gewesen. Unklar bis zur Ungenießbarkeit habe man das Ganze gescholten, aber mindestens zwanzig Takte lang, habe es geheißen, herrsche eine so skandalöse Verwirrung – hauptsächlich infolge überstark gefärbter Modulationen –, daß man danach die Akten über die Unfähigkeit des Mannes zum strengen Stil beruhigt schließen könne.
    Ich unterbreche mich in meiner Wiedergabe, nur, um aufmerksam zu machen, daß der Vortragende da von Dingen, Angelegenheiten, Kunstverhältnissen sprach, die noch gar nicht in unseren Gesichtskreis fielen und nur am Rande desselben erst durch sein immerfort gefährdetes Sprechen schattenhaft für uns auftauchten; daß wir ihn nicht zu kontrollieren vermochten außer durch seine eigenen erläuternden Vorführungen am Pianoforte und dem allen mit der dunkel erregten Phantasie von Kindern zuhörten, die Märchen lauschen, welche sie nicht verstehen, während ihr zarter Geist sich doch auf eine eigentümlich traumhaft ahnungsvolle Weise dadurch bereichert und gefördert sieht. »Fuge«, »Kontrapunkt«, »Eroica«, »Verwirrung durch überfärbte Modulationen«, »strenger Stil«, – das war im Grunde alles noch Märchengeraun für uns, aber wir hörten es so gern und mit so großen Augen, wie Kinder das Unverständliche, eigentlich noch ganz Unzukömmliche hören – und zwar mit viel mehr Vergnügen, als das Nächste, Wohl {88} entsprechende, Angemessene ihnen gewährt. Will man glauben, daß dies die intensivste und stolzeste, vielleicht förderlichste Art des Lernens ist – das antizipierende Lernen, das Lernen über weite Strecken von Unwissenheit hinweg? Als Pädagoge sollte ich ihm wohl nicht das Wort reden, aber ich weiß nun einmal, daß die Jugend es außerordentlich bevorzugt, und ich meine, der übersprungene Raum füllt sich auch mit der Zeit wohl von selber aus.
    Beethoven also, so hörten wir, hatte in dem Ruf gestanden, keine Fuge schreiben zu können, und nun fragte es sich, wie weit diese boshafte Nachrede die Wahrheit traf. Offenbar war er bemüht gewesen, sie zu entkräften. Mehrmals hatte er in seine nachfolgende Klaviermusik Fugen eingelegt, und zwar dreistimmige: in die Hammerklaviersonate sowohl wie in die, die aus As-dur geht. Das eine Mal hatte er hinzugefügt: »Mit einigen Freiheiten«, zum Zeichen, daß ihm die Regeln, gegen die er verstoßen hatte, sehr wohl bekannt waren. Warum er sie vernachlässigt hatte, ob aus Absolutismus oder weil er mit ihnen nicht fertiggeworden war, blieb eine Streitfrage. Doch freilich, dann sei die große Fugen-Ouvertüre Opus 124, es seien die majestätischen Fugen im Gloria und Credo der Missa Solemnis gekommen: zum Beweise endlich denn doch, daß auch im Kampfe mit diesem Engel der große Ringer Sieger geblieben, mochte er gleich aus der Hüfte lahmend daraus hervorgegangen sein.
    Kretzschmar erzählte uns eine schauerliche Geschichte, die uns von der heiligen Schwere dieses Kampfes und von der Person des heimgesuchten Schöpfers ein ungeheuerlich-unauslöschliches Bild einprägte. Es war im Hochsommer 1819 gewesen, zu der Zeit, als Beethoven im Hafnerhause zu Mödling an der Missa arbeitete, verzweifelt darüber, daß jeder Satz viel länger ausfiel, als vorauszusehen gewesen, so daß der Termin der Fertigstellung, d.h. der Märztag nächsten Jahres, auf {89} den die Installation des Erzherzogs Rudolf als Erzbischof von Olmütz angesetzt war, unmöglich würde eingehalten werden können, – es war damals, daß zwei Freunde und Adepten ihn eines Nachmittags dort aufgesucht und schon beim Eintritt ins Haus Erschreckendes erfahren hatten. Am selben Morgen nämlich waren die beiden Mägde des Meisters auf und davon gegangen, da es die Nacht zuvor, gegen 1 Uhr, einen wilden, das ganze Haus aus dem Schlummer reißenden Auftritt gegeben hatte. Der Herr hatte gewerkt, den Abend bis tief in die Nacht, am Credo, am Credo mit der Fuge, und nicht des Abendessens

Weitere Kostenlose Bücher