Doktor Proktor im Goldrausch
lässt dich heute Nacht aber bestimmt dort schlafen. Nicht wahr, Eva?«
»Wenn’s sein muss«, schnaubte Eva. »Aber wenn du was anfasst, verkaufen wir dich an einen Wanderzirkus.«
»Behalt dein Geld und deine Pickel!«, sagte Bulle, knüllte den Hunderter zusammen und warf ihn zurück zu seiner Schwester. »Dir kaufe ich nicht mal ’nen Teebeutel!«
Eva hielt sich erschrocken die Hand vor den Mund.
»Hast du das gehört, Mama? Hast du gehört, wie diese Missgeburt mit deiner einzigen Tochter spricht?«
»Hab Respekt vor deiner Schwester, Bulle«, murmelte die Mutter und drehte den Fernseher lauter. »Jetzt sieh zu, dass du den Abwasch in der Küche erledigst. Da hat sich einiges angesammelt, während du weg warst.«
Bulle ging in sein Zimmer – das genau genommen nicht mehr sein Zimmer war – holte die Zahnbürste aus der Einkaufstüte, putzte sich die Zähne mit und ohne Gold, zog seinen Schlafanzug an und kroch ins Bett.
Er lag eine Weile mit geschlossenen Augen da und bildete sich ein, seine Freunde zu hören: Doktor Proktors Hämmern und Bohren, das Blubbern der Flüssigkeit in den Reagenzgläsern, Juliettes Schnarchen aus dem Schlafzimmer nebenan und Lises Klarinette auf der anderen Seite der Kanonenstraße.
Jetzt war sie bestimmt auch schon im Bett.
Bulle kletterte wie gewöhnlich aufs Fensterbrett und hielt die Finger vor die Taschenlampe, sodass Schatten auf die dünne Gardine fielen. Er war sich fast sicher, dass Lise seine Theatervorführung verfolgte. An diesem Abend handelte sie von drei Freunden auf der Jagd nach Banditen und dem gesamten Goldvorrat einer kleinen Nation, der letztendlich nur aus einem einzelnen Goldbarren bestand. Und noch bevor Lise eingeschlafen war, hatten die drei Helden die Banditen besiegt und dafür das Gold, das halbe Königreich und mindestens zwei Prinzessinnen bekommen.
Kapitel 7
Madame Tourettes
Wachsfigurenkabinett und der
König des Pop
E s war Punkt zwölf Uhr an einem typischen Londonvormittag, an dem ein typischer Londonregen auf die Stadt herabrieselte. Und da es also Punkt zwölf Uhr war, begann Big Ben – eine ziemlich punktgenaue und riesige Glocke in einem ziemlich riesigen Turm im Zentrum Londons – zu schlagen. Und als schließlich der letzte ihrer zwölf typischen Londonglockenschläge verhallt war, öffnete sich die Tür eines Hotelzimmers am Regent Court Yard Garden Square Crossing.
»Was für eine Aussicht«, sagte Lise. Dabei ließ sie die Tür zum Hotelzimmer sperrangelweit offen stehen und stürmte ans Fenster. »Von hier aus kann man die Themse, die Westminster Bridge und Big Ben sehen!«
»Ich nehm die obere Koje!«, rief Bulle und schubste Doktor Proktor zur Seite.
»Ich glaube nicht, dass es hier Etagenbätten gibt«, sagte der Professor. »Im Schlafzimmer sind zwei Bätten für dich und Lise. Ich schlafe hier auf dem Sofätten.«
Bulle schnitt eine Grimasse. »Sofätten? Etagenbätten?«
Der Professor stellte die Golftasche mit einem Seufzer neben dem Sofa ab. »Ich habe dir doch schon erklärt, dass ich nur noch zwei Sprachpillen für Schulenglisch hatte. Die habe ich euch überlassen. Selber habe ich die für…«
»… Schottisch genommen«, vollendete Bulle den Satz. »Trotzdem, was heißt Sofätten?«
»Schottisch ist etwas anders, Bulle, aber das wirst du schon noch herausfinden.«
»Solange Sie nicht mit Schottenrock und Dudelsack daherkommen«, witzelte Bulle und lief ins Schlafzimmer.
»He, hört mal«, sagte Lise. »Wir müssen uns bald auf den Weg zu Madame Tourettes Wachsfigurenkabinett machen, am Eingang ist bestimmt ’ne Schlange. Wir wollen doch pünktlich sein.«
»Ja, Meister«, rief Bulle aus dem Schlafzimmer und hüpfte eine Weile auf dem einen Bett herum, ehe er das andere ausprobierte. »Eindeutig der bessere Boing. Ist es okay, wenn ich das Bett am Fenster nehme, Lise?«
»Meinetwegen. Aber was würdest du tun, wenn ich Nein gesagt hätte?«
»Dann hättest du natürlich das Bett an der Wand bekommen, ich bin ja kein Unmensch. Wow, ich komm bis an die Decke!«
»Jetzt komm!«
»Sofort, ich muss mich nur noch schnell umziehen.«
»Bulle, wir müssen rechtzeitig…«
»Fertig!«
Lise und Doktor Proktor staunten nicht schlecht. In der Tür stand Bulle in einem Tweedmantel und mit einer Tweedmütze auf dem Kopf, die mindestens genauso bescheuert wie die Hüte vom Secret Garden aussah.
»Was ist?«, fragte Bulle. »Ordentliche Detektive sind verkleidet und haben geheime Namen. Ihr dürft mich ab
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