Doktor Proktor im Goldrausch

Stahltür innerhalb von dreißig Sekunden zu öffnen, entlarvte das System ihn als Einbrecher – womit es ja völlig recht hatte. Und damit würde der Alarm ausgelöst werden. Das heißt, ab jetzt in siebenundzwanzig Sekunden. Sechsundzwanzig…
    Bulle war sich völlig im Klaren darüber, dass er in dieser Zeit unmöglich den Code aus dreizehn Zahlen und vier Buchstaben knacken konnte. Stattdessen machte er den Reißverschluss seiner Hose auf und zielte auf das Zahlenschloss. Laut Doktor Proktor brauchte das eisblaue Frostmittel drei Minuten, um sich mit der Magensäure zu vermischen und Leber, Milz, Nieren und andere innere Organe zu durchqueren, ehe es auspinkelbar war. Bulle presste.
    Zwanzig Sekunden.
    »Jetzt komm schon«, murmelte er.
    Sechzehn Sekunden.
    Er presste fester, stöhnte. Es ist eben nicht so einfach, auf Befehl zu pinkeln.
    Bulle hatte gehört, dass es half, wenn man bei einer Pinkelblockade an fließende Dinge dachte. Also dachte er an laufende Wasserhähne, Regenwasser in einer Dachrinne, einen plätschernden Bach. Aber es kam nichts.
    Zwölf Sekunden.
    Mittelbreiter Fluss. Breiter Fluss. Wasserfall. Neun Sekunden.
    Niagara, Vøringsfall und Viktoriafälle zusammen.
    Sieben Sekunden.
    Jetzt musste was passieren. Und zwar blitzschnell.
    »Okay, umgekehrte Psychologie«, murmelte Bulle. Er schloss die Augen und dachte ganz fest daran, dass er auf keinen Fall pinkeln durfte, nicht hier, nicht in einem öffentlichen Gebäude, nicht vor dem Tresorraum der Bank Der Schrecklich Reichen.

    Vier Sekunden.
    Stell dir bloß mal vor, was das für ein Skandal wäre! Er wäre ein willkommenes Fressen für die Zeitungen. Schlagzeile: Junge pinkelt gegen sicherste Stahltür der Welt. Uddevallas Bürgermeister außer sich!
    Plötzlich spritzte ein gelber Strahl, so gerade wie ein Laserstrahl, auf die Stahltür und das Zahlenschloss.
    Bulle traute sich nicht, auf die Uhr zu gucken. Stattdessen zog er den Reißverschluss wieder zu und hob den Fuß mit dem Holzhackschuh, um gegen das Schloss zu treten.
    Es hörte sich an wie Eiszapfen, die von einer Regenrinne abbrachen und auf dem Boden zersplitterten. Ein klirrendes, sirrendes, knirschendes Geräusch. Als ob etwas in tausend Stücke zerbrach.
    Bulle legte die Hand um den Griff der Stahltür.
    Sie musste offen sein!
    Sie war offen.
    Jetzt warf Bulle doch einen Blick zu der Uhr an der Wand. Sie war bei 0,5 Sekunden stehen geblieben.
    Es lief ihm kalt den Rücken hinunter, als er die Tür ganz weit aufzog.
    Der Anblick, der sich ihm bot, war genau das, was er erhofft hatte.
    In dem Tresorraum lag ein Haufen Goldbarren, die in dem Lichtschein, der durch die Tür hereinfiel, leicht funkelten. Und oben auf dem Haufen lag ein gigantischer Diamant von der Größe eines Fußballs, der wie eine Discokugel glitzerte.
    Bulle sah auf seine Armbanduhr. Er hatte jetzt noch elf Minuten, um den Goldbarren der Norwegischen Nationalbank zu finden und sich zu verdrücken.
    Als er gerade den Diamanten beiseiteräumen wollte, fiel ihm ein, dass er ihn auf keinen Fall berühren durfte, denn auch das würde sofort den Alarm auslösen. Stattdessen ging er in die Hocke und las, was in die Goldbarren eingeprägt war.
    Banco Central do Brasil. Banco Central do Brasil.
    Banco Central do Brasil. Banco Central do … Was, wenn der Goldbarren der norwegischen Nationalbank genau in der Mitte des Haufens lag? Konnte er dafür nicht einfach einen brasilianischen Goldbarren mitnehmen? Bulle lauschte auf die Stimmen in seinem Kopf. Seine Mutter sagte: »Ja und, was soll’s? Gold ist Gold. Brasilien hat genug davon.« Und Lise sagte: »Nein, Bulle! Anderen was wegzunehmen, ist Diebstahl, egal, wie verzweifelt du bist!«
    Bulle sah wieder auf die Uhr. Sechs Minuten vor drei. Er hasste Uhren!
    Da fiel sein Blick auf etwas, halb verborgen in dem Haufen, von dem nur ein paar Buchstaben sichtbar waren:…WEGEN. Am liebsten hätte er alle anderen Barren einfach zur Seite geschoben, aber erst musste er sicher sein, dass es wirklich der richtige Goldbarren war, bevor er den Alarm auslöste. Danach war es nur noch eine Frage von Sekunden, bis die Wachmänner da waren.
    …WEGEN. Das konnten doch eigentlich nur die letzten Buchstaben von Bank von NorWEGEN sein? Oder?
    Bulle rasselte in affenartiger Geschwindigkeit alle Banknamen herunter, die ihm einfielen: »Bank von Afghanistan? Nein. Bank von Albanien? Nein. Bank von Algerien?« Er raste durchs Alphabet und durch alle Länder dieser Welt plus noch ein paar