Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
mich beim Namen, und dann sprang er in die Tiefe. Ich sah ihn aus einer Höhe von etwa zwanzig Metern herabstürzen und spürte ein unerträgliches Gefühl im Unterleib. Ich kannte dieses Gefühl aus Träumen, in denen ich abstürzte.
Don Genaro trat herzu und fragte lächelnd, ob mir sein Sprung gefallen habe. Vergeblich versuchte ich etwas zu sagen. Wieder rief Don Genaro mich beim Namen. »Carlitos! Schau her!« sagte er.
Er schwenkte die Arme vier- oder fünfmal hin und her. wie um Anlauf zu nehmen, und dann sprang er außer Sichtweite, oder wenigstens glaubte ich dies. Oder vielleicht tat er noch etwas anderes, für das ich keine Worte hatte. Er war zwei, drei Meter von mir entfernt, und dann verschwand er. als ob eine unkontrollierbare Macht ihn verschluckt hätte. Ich fühlte mich gleichgültig und müde. Irgendwie war mir alles egal, und ich wollte weder denken noch mein Selbstgespräch führen. Ich verspürte keine Angst, nur eine unerklärliche Traurigkeit. Mir war nach Weinen zumute. Don Juan schlug mich mehrmals mit den Fingerknöcheln auf den Kopf und lachte, als sei alles, was geschehen war, nur ein Spaß. Dann verlangte er, ich solle mit mir selbst reden, denn dies sei der Augenblick, da ich den inneren Dialog verzweifelt nötig hätte. Ich hörte, wie er mir befahl: »Rede, rede!« Ich spürte, wie die Muskeln meiner Lippen sich unwillkürlich verkrampften. Mein Mund bewegte sich, ohne einen Ton hervorzubringen. Ich erinnerte mich daran, wie Don Genaro seinen Mund ganz ähnlich bewegt hatte, als er seine Spaße machte, und ich wünschte mir. ich könnte, wie er damals, sagen: Mein Mund will nicht sprechen. Ich versuchte die Worte auszustoßen, und meine Lippen verzerrten sich schmerzhaft. Don Juan schien sich vor Lachen ausschütten zu wollen. Seine Lustigkeit war so ansteckend, daß ich ebenfalls lachen mußte. Schließlich half er mir auf die Beine. Ich fragte ihn, ob Don Genaro denn nicht zurückkäme. Er meinte. Don Genaro habe für heute genug von mir.
»Beinah hast du es geschafft«, sagte Don Juan. Wir saßen neben der Feuerstelle. Er hatte darauf bestanden, daß ich etwas äße. Ich war weder hungrig noch müde. Eine ungewohnte Traurigkeit hatte mich befallen: alle Ereignisse dieses Tages schienen mir so fern. Don Juan reichte mir mein Schreibzeug. Ich machte eine gewaltige Anstrengung, um meinen Normalzustand wiederzugewinnen. Ich kritzelte ein paar Sätze unseres Gesprächs hin. Nach und nach kehrte meine alte Form wieder. Es war. als würde ein Schleier weggezogen: auf einmal fand ic hwieder zu meiner vertrauten Haltung von Interesse und Staunen zurück. »Brav, brav«, sagte Don Juan und streichelte mir den Kopf. »Ich sagte dir schon, daß die wahre Kunst des Kriegers darin besteht. Erschrecken und Erstaunen im Gleichgewicht zu halten.«
Don Juan war in einer merkwürdigen Stimmung. Beinahe kam er mir nervös und besorgt vor. Er schien bereit, von sich aus das Wort an mich zu richten. Ich glaubte, er habe vor. mich auf die Erklärung der Zauberer vorzubereiten, und ich wurde selbst ganz unruhig. Seine Augen zeigten ein seltsames Glitzern, das ich nur einige Male vorher bei ihm gesehen hatte. Nachdem ich ihm mitgeteilt hatte, was ich von seinem ungewöhnlichen Benehmen hielt, meinte er, er freue sich für mich, denn ein Krieger könne über die Triumphe seiner Mitmenschen frohlocken, falls es Triumphe des Geistes seien. Unglücklicherweise, fügte er hinzu, sei ich noch nicht für die Erklärung der Zauberer bereit, und das trotz der Tatsache, daß ich Don Genaros Rätsel erfolgreich gelöst hatte. Er beanstandete, daß ich. als er meinen Körper mit Wasser begossen hatte, beinahe gestorben wäre: meine ganze Leistung sei durch meine Unfähigkeit. Don Genaros letzten Angriff abzuwehren, zunichte geworden. »Genaros Kraft war wie eine Flut, die dich wegspülte«, sagte er.
»Wollte Don Genaro mir denn Schaden zufügen?« fragte ich. »Nein«, sagte er. »Genaro will dir helfen. Aber Kraft ist nur durch Kraft aufzuwiegen. Er hat dich auf die Probe gestellt, und du hast versagt.«
»Aber ich habe doch sein Rätsel gelöst, nicht wahr?«
»Das hast du gut gemacht«, sagte er. »So gut, daß Genaro annehmen mußte, du seist imstande, die Tat eines Kriegers zu vollbringen. Du hast es beinahe geschafft. Was dich diesmal zurückwarf, war aber nicht deine Neigung, dich gehenzulassen.«
»Was war es denn?«
»Du warst zu ungeduldig und heftig; statt dich zu entspannen und Genaro zu folgen,
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