Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
ich heute trage, mich perfekt kleidet. Nicht meine Eitelkeit wollte ich dir damit beweisen, sondern meinen Krieger-Geist, mein Krieger- Tonal. Diese beiden Frauen haben dir heute deinen erster, Eindruck vom Tonal gegeben. Das Leben kann mit dir ebenso erbarmungslos sein wie mit ihnen, wenn du sorglos mit deinem Tonal umgehst. Mich selbst möchte ich einmal als Gegenbeispiel anführen. Falls du mich recht verstehst. brauche ich dies nicht näher zu erläutern.«
Plötzlich wurde ich unsicher und bat ihn. mir genauer zu sagen, was ich verstanden haben sollte. Wahrscheinlich klang meine Stimme hoffnungslos. Er lachte laut heraus. »Schau dir diesen jungen Mann in grünen Hosen und einem rosa Hemd an!« flüsterte Don Juan und deutete auf einen sehr mageren, sehr dunkelhäutigen jungen Mann mit scharfen Gesichtszügen, der beinahe vor uns stand. Er schien unentschlossen, ob er sich zur Straße oder zur Kirche wenden sollte. Zweimal hob er die Hand in Richtung Kirche, als spreche er mit sich selbst und sei im Begriff, dorthin zu gehen. Dann starrte er mich mit ausdruckslosem Gesicht an. »Schau nur. wie er angezogen ist!« flüsterte Don Juan. »Schau dir diese Schuhe an!«
Die Kleidung des jungen Mannes war zerlumpt und zerknittert und seine Schuhe hingen in Fetzen. »Er ist offenbar sehr arm«, sagte ich. »Ist das alles, was du über ihn zu sagen weißt?« fragte er. Ich zählte eine Reihe von Gründen auf, die das schäbige Aussehen des jungen Mannes erklären mochten: Krankheit. Unglück, Nachlässigkeit. Gleichgültigkeit gegenüber seinem Äußeren oder auch die Möglichkeit, daß er gerade aus dem Gefängnis entlassen worden war.
Don Juan meinte, ich spekulierte bloß drauflos und er habe kein Interesse, irgend etwas durch den Hinweis zu rechtfertigen, daß der Mann ein Opfer unüberwindlicher Schwierigkeiten sei.
»Vielleicht ist er ein Geheimagent, der sich wie ein Strolch ausstaffiert hat«, scherzte ich.
Der junge Mann bewegte sich mit fahrigen Schritten auf die Straße zu.
»Er ist nicht wie ein Strolch ausstaffiert, er ist ein Strolch«, sagte Don Juan. »Schau nur. wie schwächlich sein Körper ist! Seine Arme und Beine sind ausgemergelt. Er kann kaum gehen. Niemand kann vortäuschen, so auszusehen. Irgend etwas an ihm ist von Grund auf falsch, aber es sind nicht seine äußeren Umstände. Ich betone noch einmal, ich möchte, daß du diesen Mann als Tonal betrachtest.«
»Was folgt daraus, wenn man einen Mann als Tonal betrachtet?«
»Daraus folgt, daß man aufhört, ihn moralisch zu beurteilen oder ihn mit der Begründung zu entschuldigen, er sei wie ein hilfloses Blatt im Wind. Mit anderen Worten, es folgt daraus. daß man einen Mann ansieht, ohne ihn dabei für verzweifelt oder hilflos zu halten.
Du weißt genau, wovon ich spreche. Du kannst diesen jungen Mann beurteilen, ohne in zu verurteilen oder zu entschuldigen.«
»Er trinkt zuviel«, sagte ich.
Diese Feststellung hatte ich nicht willentlich getroffen. Ich hatte es einfach gesagt, ohne eigentlich zu wissen, warum. Einen Moment hatte ich sogar gemeint, es stehe jemand hinter mir und sagte diese Worte. Ich fühlte mich verpflichtet zu erklären, daß meine Behauptung doch wieder nur eine meiner Spekulationen gewesen sei.
»Das ist nicht wahr«, sagte Don Juan. »Deine Stimme besaß eine Festigkeit, die ihr vorher fehlte. Duhast nicht gesagt: Vielleicht ist er ein Trinker.«
Ich war verwirrt, wenngleich ich nicht genau zu sagen wußte, warum. Don Juan lachte.
»Du hast durch den Mann hindurch gesehen«, sagte er. »Das war Sehen. So etwa ist das Sehen. Man äußert sein Urteil mit großer Gewißheit, und man weiß nicht, wie es dazu kam.
Du weißt, daß das Tonal des jungen Mannes kaputt ist, aber du weißt nicht, wieso du es weißt.«
Irgendwie, mußte ich zugeben, hatte ich diesen Eindruck gehabt.
»Du hast recht«, sagte Don Juan. »Es will gar nichts besagen, daß er jung ist, er ist genauso hinfällig wie die zwei Frauen. Die Jugend ist keineswegs eine Schranke gegen den Verfall des Tonal.
Du glaubtest, es gebe vielleicht eine Menge Gründe für den Zustand dieses Mannes. Ich meine, es gibt nur einen: sein Tonal. Doch es ist nicht so, daß sein Tonal etwa schwach wäre, weil er trinkt. Vielmehr umgekehrt, er trinkt, weil sein Tonal schwach ist. Diese Schwäche zwingt ihn zu sein, was er ist. Aber dasselbe geschieht in der einen oder anderen Form mit uns allen.«
»Aber rechtfertigst du nicht ebenfalls sein Verhalten, sobald du
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