Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten
Leute zu beobachten. Die einen gehen auf der Straße vorüber, und andere komm en aus der Kirche. Von hier aus können wir jeden sehen.« Er deutete auf eine breite Geschäftsstraße und auf einen Kiesweg, der zur Treppe vor der Kirche führte. Unsere Bank stand halbwegs zwischen Kirche und Straße. »Das ist meine Lieblingsbank«, sagte er und streichelte das Holz.
Er zwinkerte mir zu und fuhr grinsend fort: »Sie liebt mich. Deshalb saß auch kein anderer hier. Sie wußte, daß ich kommen würde.«
»Das wußte die Bank?«
»Nein! Nicht die Bank. Mein Nagual.«
»Hat das Nagual ein Bewußtsein? Ist es sich der Dinge bewußt?«
»Selbstverständlich. Es weiß alles. Daher finde ich auch deinen Bericht so interessant. Was du Entgleisungen und Gefühle nanntest, ist das Nagual. Wollten wir darüber sprechen, dann müßten wir bei der Insel des Tonal Anleihen machen, darum ist es praktischer, es nicht zu erklären, sondern nur von seinen Auswirkungen zu berichten.«
Ich wollte noch etwas über diese eigenartigen Empfindungen sagen, aber er gebot mir Schweigen.
»Genug! Heute ist nicht der Tag des .Nagual. heute ist der Tag des Tonal«, sagte er. »Ich habe meinen Anzug angelegt, weil ich heute ganz Tonal bin.«
Er ließ seinen Blick auf mir ruhen. Ich wollte ihm gerade sagen, daß unser Thema mir schwieriger erschien als alles andere, was er mir je erklärt hatte: er schien meine Worte erahnt zu haben.
»Es ist schwierig«, fuhr er fort. »Ich weiß. Aber wenn du bedenkst, daß dies der abschließende Deckel, die letzte Stufe dessen ist, was ich dich gelehrt habe, dann ist es nicht übertrieben zu behaupten, daß es alles umfaßt. was ich seit dem ersten Tag. als wir uns begegneten, gesagt habe.« Lange Zeit schwiegen wir. Ich meinte, ich müsse warten, bis er seine Erklärung noch einmal zusammenfaßte. aber plötzlich überfiel mich eine Ahnung, und ich fragte schnell: »Sind das Nagual und das Tonal m uns selbst 0 « Er sah mich eindringlich an. »Eine sehr schwierige Frage«, sagte er. »Du würdest sagen, sie sind in uns. Ich würde sagen, sie sind es nicht, aber keiner von uns hätte recht. Das Tonal deiner Zeit verlangt, daß du behauptest, alles, was mit deinen Gefühlen und Gedanken zu tun hat, finde in dir statt. Das Tonal der Zauberer sagt, im Gegenteil, alles ist draußen. Wer hat nun recht? Keiner von beiden. Drinnen oder draußen - darauf kommt es wirklich nicht an.«
Ich erhob einen Einwand. Als er über das »Tonal« und das »Nagual« gesprochen hatte, sagte ich, da habe es so geklungen, als gebe es noch einen dritten Teil. Er hatte gesagt, das »Tonal« zwinge uns, Handlungen zu tun. Ich bat ihn nun, mir zu sagen, wer für ihn derjenige sei. der gezwungen werde. Er antwortete mir nicht direkt.
»Dies läßt sich nicht so einfach erklären«, sagte er. »Ganz gleich, wie schlau die Kontrollen des Tonal sind -Tatsache ist, daß das Nagual dennoch auftaucht. Sein Auftauchen geschieht jedoch immer unabsichtlich. Es ist die große Kunst des Tonal, jegliche Bekundung des Nagual so weitgehend zu unterdrük-ken, daß es. selbst wenn sein Dasein das Offenkundigste von der Welt wäre, unbemerkbar bleibt.«
»Für wen ist es unbemerkbar?«
Er lachte und nickte mit dem Kopf. Ich bedrängte ihn um eine Antwort.
»Für das Tonal«. sagte er. »Ich spreche ausschließlich vom Tonal. Vielleicht bewege ich mich im Kreis, aber das darf dich nicht überraschen oder stören. Ich habe dich bereits gewarnt, wie schwierig es ist. was ich dir zu sagen habe. Ich nehme all diese Verrenkungen auf mich, weil mein Tonal sich dessen bewußt ist. daß es über sich selbst spricht. Mit anderen Worten, mein Tonal benutzt sich selb st, um die Information zu verstehen, über die dein Tonal sich klarwerden soll. Man kann sagen, daß das Tonal, da es genau weiß, wie strapaziös es ist. von sich selbst zu sprechen, zum Ausgleich die Begriffe >ich<, >mich< usw. geschaffen hat, und mit deren Hilfe kann es mit anderen Tonais oder mit sich selbst über sich selbst sprechen. Wenn ich nun sage, daß das Tonal uns zwingt, etwas zu tun. dann meine ich nicht, daß es noch ein Drittes gäbe. Offensichtlich zwingt es sich selbst, seine eigenen Einsichten zu befolgen.
Doch bei bestimmten Gelegenheiten oder unter gewissen, besonderen Umständen wird etwas im Tonal sich dessen bewußt, daß es in uns noch etwas anderes gibt. Es ist wie eine Stimme, die von tief innen kommt, die Stimme des N agual. Du siehst, die Ganzheit unseres Selbst
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