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Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten

Titel: Don Juan 04 - Der Ring der Kraft. Don Juan in den Städten Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Carlos Castaneda
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ist ein natürlicher Zustand, den das Tonal nicht gänzlich austilgen kann, und es gibt Augenblicke, besonders im Leben eines Kriegers, da die Ganzheit in Erscheinung tritt. In solchen Augenblicken können wir mutmaßen und anschätzen. was wir wirklich sind. Jene Schocks, die du verspürt hast, haben mich besonders interessiert, denn dies ist die Art, wie das Nagual auftaucht. In solchen Augenblicken wird das Tonal sich der Ganzheit unseres Selbst bewußt. Dies ist stets ein Schock, denn dieses Bewußtsein unterbricht die Windstille. Dieses Bewußtsein nenne ich die Ganzheit des Wesens, das weiß, daß es sterben wird. Man kann es sich so vorstellen, daß im Augenblick des Todes der andere Partner des echten Paares, das Nagual, voll in Funktion tritt und das in unseren Waden und Schenkeln, im Rücken, in den Schultern und im Hals gespeicherte Bewußtsein - unsere Erinnerungen und Wahrnehmungen - sich auszudehnen und aufzulösen beginnt. Wie die Perlen einer endlosen, zerrissenen Halskette fallen sie, ohne die bindende Kraft des Lebens, auseinander.«
    Er blickte mich an. Seine Augen waren voller Frieden. Ich fühlte mich unwohl, blöde.
    »Die Ganzheit unseres Selbst ist eine sehr dehnbare Sache«, sagte er. »Wir brauchen nur einen sehr geringen Teil davon, um die kompliziertesten Aufgaben des Lebens zu bewältigen. Doch wenn wir sterben, dann sterben wir mit der Ganzheit unseres Selbst. Ein Zauberer stellt sich die Frage: Wenn wir schon mit der Ganzheit unseres Selbst sterben, warum dann nicht mit dieser Ganzheit leben?«
    Durch eine Kopfbewegung forderte er mich auf, die vielen vorbeigehenden Menschen zu beobachten. »Sie alle sind Tonal«-, sagte er. »Ich werde jetzt etliche von ihnen herausgreifen, damit dein Tonal sie beurteilt, und indem es sie beurteilt, wird es sich selbst beurteilen.« Er lenkte meine Aufmerksamkeit auf zwei alte Damen, die eben aus der Kirche kamen. Sie standen einen Moment oben auf der Steintreppe und schickten sich nun an, mit unendlicher Vorsicht herabzusteigen, wobei sie auf jeder Stufe stehenblieben. »Schau dir diese zwei Frauen sehr genau an«, sagte er. »Aber betrachte sie nicht als Personen oder als Gestalten, die etwas mit uns gemeinsam haben. >Betrachte sie als Tonais.<« Die beiden Frauen erreichten den Fuß der Treppe. Sie bewegten sich über den groben Kies, als seien es lauter Murmeln, auf denen sie auszugleiten und hinzufallen fürchteten. Sie gingen Arm in Arm und stützten sich mit ihrem ganzen Gewicht auf einander.
    »Schau sie an!« sagte Don Juan leise. »Diese Frauen sind das beste Beispiel für das erbärmlichste Tonal, das man finden kann.«
    Die beiden Frauen waren, wie ich feststellte, zartgliedrig. aber fett. Sie waren vielleicht Anfang Fünfzig. Ihre Gesichter zeigten einen schmerzlichen Ausdruck, als habe der Weg über die Kirchentreppe hinunter all ihre Kräfte überfordert. Nun waren sie vor uns, sie schwankten einen Augenblick und blieben dann stehen. Vor ihnen lag nur noch ein Schritt auf dem Kiesweg. »Seien Sie vorsichtig, meine Damen!« rief Don Juan und sprang mit gespieltem Eifer auf.
    Die Frauen sahen ihn an - offensichtlich verwirrt durch seinen plötzlichen Ausbruch.
    »Genau an dieser Stelle hat meine Mutter sich einmal das Hüftgelenk gebrochen«, fügte er hinzu und schoß hinüber, um ihnen behilflich zu sein. Sie dankten ihm überschwänglich, und er riet ihnen, sie müß-ten, falls sie einmal das Gleichgewicht verlieren und hinfallen sollten, reglos auf dem Fleck liegenbleiben, bis der Krankenwagen käme. Dies sagte er in völlig ernstem, überzeugendem Ton. Die Frauen bekreuzigten sich.
    Don Juan setzte sich wieder. Seine Augen strahlten. Er sprach leise weiter.
    »Diese Frauen sind gar nicht so alt, und ihre Körper sind nicht so schwach, und doch sind sie hinfällig. Alles an ihnen ist trostlos, ihre Kleidung, ihr Geruch, ihr Verhalten. Warum, glaubst du. sind sie so?«
    »Vielleicht wurden sie so geboren«, meinte ich. »Niemand wird so geboren. Wir machen uns selbst dazu. Das Tonal dieser Frauen ist schwach und verzagt. Ich sagte dir ja, heute ist der Tag des Tonal. Ich meinte damit, daß ich mich heute ausschließlich mit diesem befassen will. Ich sagte dir auch, daß ich zu diesem besonderen Zweck meinen Anzug angezogen habe. Damit wollte ich dir zeigen, daß ein Krieger mit seinem Tonal auf ganz bestimmte, sorgsame Weise umgeht. Ich habe dich auch darauf aufmerksam gemacht, daß mein Anzug tadellos gearbeitet ist und daß alles, was

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