Doppelte Schuld
und dunkel, es war niemand zu sehen. In einer Vitrine lag das Handwerkszeug eines Juweliers, wie sie es noch kannte: Lupe, Pinzette, Drahtzange.
»Niemand hier?« Der Mann stand hinter ihr, sie erkannte ihn sofort, als sie sich umdrehte. Es war der Mann, der ihr schon zweimal über den Weg gelaufen war. Der Mann in den Wanderhosen.
»Verzeihung«, sagte sie und schob sich an ihm vorbei nach draußen.
Blanckenburg ist überschaubar, dachte sie. Da begegnet man einem Menschen auch mehr als einmal. Aber das hier war kein Zufall.
Auf dem Rückweg nahm sie die Altstadtpassage hinunter zur Langen Straße. Sie erinnerte sich nicht daran, wie es früher hier ausgesehen hatte, aber gewiß hatte es so etwas Idyllisches wie das Café unter den Lindenbäumen nicht gegeben. Vor einer frischrenovierten Fachwerkfassade standen Tische mit zierlichen weißen Stühlchen, an denen Menschen saßen, die offenbar keinen Mittagsschlaf brauchten: ein älteres Paar mit zwei kleinen Kindern, wahrscheinlich Großeltern und Enkel, und eine junge blonde Frau, vor sich eine Zeitung. »Bei Ettore« stand über dem Eingang zum Restaurant, darunter ein Mann mit dunklen Locken und weißer Schürze, wahrscheinlich Ettore persönlich. Der Mann lächelte ihr zu, verbeugte sich formvollendet und rückte ihr einen der Stühle hin, so daß sie bequem Platz nehmen konnte.
»Etwas zu trinken, Signora? Und Wasser für den Hund?«
Er brachte das Gewünschte und eine Zeitung dazu. Mary wartete, bis der Kaffee kühl genug war für den ersten Schluck. Erst dann öffnete sie die Zeitung, voller Vorahnungen. Und die wurden auch noch übertroffen.
Die Meldung stand auf der ersten Seite. »Toter im Park von Schloß Blanckenburg. Polizei geht von Gewalttat aus.« Rechts davon ein Bild mit der Unterschrift: »Wer kennt diesen Mann?«
Mary ließ die Zeitung sinken. Ich, dachte sie. Ich kenne ihn.
Sie erinnerte sich an das Gesicht des schüchternen jungen Mannes, wie er neben Paul Grunau stand, vor siebzehn Jahren, wenige Monate nach der Wende. Benjamin Dimitroff, genannt Benny. »Ein Zuverlässiger«, hatte Paul gesagt. Einer der wenigen, die es damals gab.
Wenn Benny tot war, ermordet, wie es aussah, dann war sie sehenden Auges in eine Falle gelaufen. Curiosity kills the cat , dachte sie. Das hast du nun davon.
Dabei hatte sie sich auf dieses Abenteuer erst gar nicht einlassen wollen. Wäre sie nur so vernünftig geblieben. Sie hatte es für einen Witz gehalten, was Karl ihr erzählte, der alte Freund hatte richtig amüsiert geklungen. »Eine gewisse Dame mit einem in gewissen Kreisen berüchtigten Ruf wird händeringend gesucht«, sagte er. »Wahrscheinlich hast du geerbt.«
»Mich gibt es seit fast 40 Jahren nicht mehr, Karl«, hatte sie geantwortet, aber ihr Herz bis in die Kehle klopfen gespürt.
»Auf sachdienliche Hinweise ist eine Belohnung ausgesetzt«, entgegnete Karl fröhlich. »Wie ist es, bestichst du mich? Damit ich nichts verrate?«
Karl würde sie nicht verraten, niemals. Er war der letzte Freund, der ihr geblieben war. Der einzige. Und der einzige, der ihren alten Namen noch kannte. Sie sehnte sich plötzlich überraschend heftig nach einem Abend mit Karl am großen Tisch im Kaminzimmer von Hesemanns Mühle, mit Rotwein, dem Duft seines Pfeifentabaks und einer Partie Schach. Karl hatte sie damals aufgefangen, als sie zurück nach Deutschland gekommen war, halb krank vor Trauer. Sie sehnte sich nach dem Freund, sie sehnte sich nach ihrem Zuhause, nach dem kühlen Emsland mit seinen Wäldern und Kanälen.
Es war ein Fehler gewesen, nach Blanckenburg zu kommen.
Die Suchanzeige hatte im Internet gestanden. Sie war Karl aufgefallen, weil er nach einem Sternbild gesucht hatte. »Das Winterdreieck. Besteht aus Betelgeuse, Orion und eben Sirius. Und unter Sirius hat die Suchmaschine unter anderem deinen Namen ausgespuckt.«
Er hatte das nur kurios gefunden, sie hingegen war alarmiert gewesen. Er konnte ja nicht wissen, was das Wort in ihr auslöste – Sirius. Nur dieses Wortes wegen war Mary dem Ruf gefolgt.
Denn es war schon seltsam genug, daß jemand sie unter dem Namen suchte, unter dem sie seit fast vierzig Jahren niemand mehr kannte. Aber nur ein einziger Mensch konnte wissen, was »Sirius« für sie bedeutete, bedeutet hatte, immer noch bedeutete. Es konnte nur einer sein, der sie nach Blanckenburg gerufen hatte.
Gregor. Der letzte Graf von Hartenfels zu Blanckenburg. Sirius war einst ihr Kosename für ihn gewesen.
Sie nahm die
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