Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen

Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
Vom Netzwerk:
sich in die Suche nach seiner Rabenmutter gestürzt, als ob nichts anderes Bedeutung hätte. Das Gesicht des Toten ging ihm nicht aus dem Kopf – auch nicht das Gefühl, daß er am Tod des Mannes schuld sein könnte.
    Jedenfalls verspürte er ein schlechtes Gewissen. Kaum war die Kripo gegangen, hatte er sich von Gregor verabschiedet, der überaus streitlustig wirkte, und war nach Hause gegangen, in sein Arbeitszimmer. Und dort hatte er, so gut es ging, die Arbeit der letzten Monate vernichtet, Dateien geschreddert, Einträge gelöscht, Recherchepfade vertuscht.
    Wahrscheinlich ein müßiges Unterfangen. Er mußte überall im Web Spuren hinterlassen haben: angefangen mit der Genealogischen Gesellschaft bis zu all den anderen Websites, auf denen er seine Suchmeldung plaziert hatte. Er hatte nirgendwo eine brauchbare Antwort erhalten – bis sich die Detektei Hermes aus Berlin meldete, wo man glaubte, ihm weiterhelfen zu können. Und nun war der Mann tot, mit dem er damals gesprochen hatte.
    Sein Nebenmann lachte. Ein Weißhaariger, der vor ihm saß, drehte sich um, zischte ihn wütend an und klatschte, wie aus Trotz. »Ich habe immer gesagt, daß das Mumpitz ist«, flüsterte der Nebenmann. »Und jetzt wollen sie in Bosnien nicht nur eine, sondern gleich acht Pyramiden entdeckt haben.«
    »Shshshsh!« Der Mann vor ihnen war rot im Gesicht.
    »Wer keine große Geschichte vorzeigen kann, erfindet sich eben eine!« Der Nebenmann zuckte mit den Achseln.
    Das konnte man natürlich so sehen. Aber die Beweislage war nicht eindeutig genug, um sich für das eine oder das andere entscheiden zu können. »Ist die These von der ersten Pyramide auf europäischem Boden nicht wenigstens unterhaltsam?« fragte Moritz den Nachbarn. Der sah ihn verständnislos an. Moritz seufzte. Wissenschaftler waren humorlos. Archäologen ganz besonders.
    Senad Hodovic sprach jetzt davon, was die Entdeckung der »Sonnenpyramide« und die Vermutung, daß noch sieben ähnliche Baukunstwerke unter den bosnischen Hügeln auf ihre Entdeckung warteten, für seine Gemeinde und das Land bedeuteten, ein wissenschaftsferner Standpunkt und zugleich der einzige, der heute zu zählen schien. Moritz wurde unruhig auf seinem Sitz im Auditorium. Geschichte war schon immer ein Faktor von höchster politischer und ökonomischer Potenz gewesen, das hatte sich nicht geändert, im Gegenteil: Wer keine nennenswerten Rohstoffe oder Exportgüter aufzuweisen hatte, setzte auf die Tourismusindustrie, und die brauchte nicht nur Landschaft und blauen Himmel, sondern Weltsensationen, die man gesehen haben mußte. Oder wenigstens ein bißchen Mythos und Legende.
    In Bosnien hatte man das begriffen. Die Ausgrabungen am Visočica wurden von einer Schokoladenfabrik gesponsert, von der bosnischen Telecom und von der örtlichen Niederlassung von Fuji-Film. Die wußten, was sie von so einem Werbeträger hatten. Und für Menschen, die noch heute die seelischen und physischen Narben eines furchtbaren Bürgerkriegs spürten, war die Vorstellung, daß hier einst eine Wiege der Zivilisation gestanden haben könnte, wahrscheinlich wie heilender Balsam.
    Dagegen sprach ja auch nichts. Höchstens, daß sich die Archäologie nicht zum ersten Mal als Dienstmagd fürs nationales Selbstbewußtsein mißbrauchen ließ. Er mochte dieses Spiel nicht. Und dennoch würde er sofort hinreisen zur Sonnenpyramide und ihren sieben Schwestern, wenn er Katalina dazu bewegen könnte mitzukommen.
    Ein Mensch ohne Vergangenheit ist ein Mensch ohne Zukunft. Und eine beschädigte Familie ist besser als gar keine. Moritz stand auf und drängte sich an den dicht an dicht sitzenden Zuhörern vorbei zum Mittelgang, der hinaufführte zum Ausgang. Deshalb faszinierte es Menschen so, nach ihrem Ursprung zu suchen – als ob sie sich vergewissern müßten, daß es auch einen Grund gab für ihre bloße Existenz. Das jedenfalls hatte er Katalina immer gesagt. Mittlerweile erlaubte er sich Zweifel.
    Moritz nickte dem weißhaarigen Emeritus zu, der freundlich lächelnd in einer der oberen Reihen saß, als ob es ihn nicht weiter erschütterte, daß da jemand behauptete, nicht die Ägypter, sondern irgendein Volksstamm aus dem heutigen Bosnien habe die Pyramide erfunden. Der Mann hatte in seinem Leben wahrscheinlich schon weit größeren Mist gehört und womöglich erlebt, daß sich der größte Unsinn mitunter als die Wahrheit entpuppte.
    Wo kommen wir her, wo gehen wir hin … Brauchen die Menschen ihre eigene Legende, so wie

Weitere Kostenlose Bücher