Doppelte Schuld
alles.«
Das war alles?
Katalina atmete tief durch. Dann öffnete sie die Tür zum Wartezimmer. Niemand saß mehr da, offenbar hatten ihre Kunden geglaubt, man habe sie verhaftet, und es vorgezogen, gleich zu gehen. Das stieß ihr bitter auf – und zugleich war sie froh darüber. Sie mußte allein sein, wenigstens für eine Weile.
Susi strampelte und quietschte. Sie gab dem Tier die Flasche. Noch war das Ferkel klein, es sah aus wie eine Kreuzung zwischen Haus- und Wildschwein. Aber es würde wachsen. Sie mußte das Tier in gute Hände geben, möglichst bald, bevor es anhänglich wurde und hinter ihr hertrabte wie ein Hund. Tenharden, dachte sie. Er würde nicht nein sagen können. Sie setzte Susi zurück in den Korb, zögernd, als ob sie den Trost des warmen Tierleibes brauchte.
Katalina glaubte nicht, daß die Kripo sie ernsthaft in Verdacht hatte. Es war das Stichwort »Mostar«, das sie nervös machte. Mostar erinnerte an schweren süßen Rotwein und an Sommerabende mit Gavro, dem Mann, den sie geliebt hatte. An ihren Vater – bei Stevo hatte man ihn festgenommen, bei einem Freund, gleich hinter dem Bulevar. Jemand hatte ihn denunziert. An Kujo Dragic, einen angesehenen Politiker, wie man überall lesen konnte, ein liberaler Kopf, ein aussichtsreicher Kandidat für einen wichtigen Regierungsposten im Falle der richtigen Wahlentscheidung der Bürger. An einem Vormittag im Frühjahr vor zwei Jahren hatte man ihn im muslimischen Teil von Mostar am Ufer der Neretva erstochen aufgefunden. Er habe den alten Kadern im Wege gestanden, die zurück an die Macht wollten, hieß es. Kujo war verblutet, langsam, qualvoll. Und sie hatte sich, als sie davon gelesen hatte, bei einem so häßlichen Gefühl wie Schadenfreude ertappt.
Kujo. Er war der einzige der fünf Jungs, der sie nicht vergewaltigt hatte. Er war nicht in der Lage dazu gewesen.
Aber auch er hatte ihr nicht geholfen.
8
Als Mary wieder herunterkam, war Frau Willke nicht mehr da. An der Rezeption saß der Mann mit der sparsamen Frisur. Wieder kaute er, starrte auf den Bildschirm und bewegte mit der rechten Hand – die linke hielt einen Apfel – die Maus. Mary räusperte sich, als sie lange genug vor der Theke gestanden hatte, ohne daß er sie zu registrieren schien.
»Ich bin hier nur die Vertretung«, murmelte der Mann. Dann seufzte er und sah auf. Die hellbraunen Augen musterten sie. »Kann ich etwas für Sie tun?« fragte er schließlich, als bliebe ihm nichts anderes übrig.
»Die Tageszeitung. Haben Sie noch eine?« Der alte Herr hatte heute früh in einer Zeitung geblättert, aber jetzt lag keine mehr auf der Anrichte vor dem Speisesaal.
Der Mann sah hinüber, kniff die Augen zusammen und schüttelte dann den Kopf. »Sieht nicht so aus.« Sein Blick senkte sich wieder.
»Ich vergaß«, sagte Mary spöttisch, »Sie sind hier nur die Vertretung.«
»Carlo«, murmelte der Mann. »Wenn ich noch etwas für Sie tun kann …«
Sie schüttelte den Kopf und wollte schon gehen. Andererseits … Sie drehte sich wieder um. »Die Tierarztpraxis von Frau Cavic«, fragte sie. »Wo finde ich die?«
Er ließ sich Zeit. Endlich hob er den Kopf. »Gleich hinter dem Markt. In der Harzstraße.« Dann glitt sein unruhiger Blick wieder zum Computerbildschirm. Und wieder klickte die Maus. Mary versuchte einen Blick auf den Monitor zu werfen. Ein Muster aus schwarzen und weißen Quadraten. Springer. Türme. Bauern. Der Mann spielte Schach.
Aber nicht das irritierte sie. Er erinnerte sie an jemanden.
Niemand begegnete ihr auf dem Weg hinunter zur Stadt; es war Mittagszeit, ganz Blanckenburg schien zu Hause zu sein und das Essen zu verdauen. Die wenigen noch existierenden Geschäfte hatten über Mittag geschlossen, auch der Zeitschriftenkiosk. Es wunderte Mary nicht weiter, daß sie auch in der Tierarztpraxis niemanden mehr antraf.
Nur die Tür zum Juweliergeschäft in der Tränkestraße stand offen. Die Fassade des Hauses sah aus wie damals, sogar der alte Namenszug stand noch über dem Schaufenster. Gregor hatte die Verlobungsringe hier gekauft. Mary sah ihn vor sich, den alten Walter Fischer, der ihr den Ring angepaßt hatte, ein sanfter Mann mit einer leisen Stimme. Sie warf einen Blick ins Schaufenster. Auch hier schien sich nichts geändert zu haben: Sorgfältig beschriftet, wie im Museum, standen neben der ersten Schaltuhr für die Blanckenburger Stadtbeleuchtung eine Zahnradfräse und ein Wecker der Firma Gustav Becker. Sie ging hinein. Der Raum war kühl
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