Doppelte Schuld
Zeitung wieder auf. Benny, älter geworden, aber unverkennbar Benny. Wenn Benny in Blanckenburg gewesen war – wenn Benny ermordet worden war –, was zum Teufel bedeutete das?
Er mußte die Suchmeldung gelesen haben. Und – andere hatten das auch getan. Andere, die darauf setzten, daß sie dem Ruf folgen würde – die nur darauf lauerten. Die fest damit rechneten, daß sie nicht widerstehen konnte.
Jahrelang, jahrzehntelang hatte sie sich Mühe gegeben, alle Spuren zu verwischen. Sie hatte sich an den Gedanken gewöhnt, daß es ihr auch gelungen war. Offenbar ein Trugschluß.
Und was lernt man daraus? Gewohnheit macht faul. Und Alter macht erst sentimental und dann nachlässig.
Es war im Februar gewesen, im Februar 1990. Henry war mit dem Hund unterwegs, sie blieb allein im Mulberry Cottage in Bovey Tracey. Die Küche mit dem summenden Aga-Küchenherd erschien vor ihrem inneren Auge wie das verlorene Paradies. Sie hatte am Abend zuvor Apfelkuchen gebacken, es duftete danach im ganzen Haus.
Die beiden standen vor der Tür und wirkten verfroren. Paul und Benny. Paul war älter geworden und kleidete sich anders als früher, aber er hatte sich kaum verändert.
»Tu mir den Gefallen. Nur diesen einen. Es ist der letzte.« Sie hatte seine heisere Stimme im Ohr, sah sein müdes Gesicht vor sich. »Ich habe nicht viel Zeit, Marie«, hatte er geflüstert. »Komm, sag ja.« Sie hatte nicht ja gesagt – aber auch nicht nein. Weil man einem alten Freund nichts abschlägt? Oder weil sie nicht wollte, daß andere davon erfuhren, seine Gegner, ihre Feinde?
Mary Nowak legte die Zeitung mit dem Bild des Toten beiseite. Benny mußte damals um die dreißig Jahre alt gewesen sein. Er hatte nicht nur Paul, sondern auch der Firma bis zuletzt treu gedient – bis er merkte, welchen Gaunern und Halunken er vertraut hatte. Nun hatte deren langer Arm ihn eingeholt. Armer Benny.
Es war alles nur noch eine Frage der Zeit. Sie mußte weg aus Blanckenburg. Sofort.
Als sie aufsah, stand Ettore vor ihr, ein Glas Ramazotti in der Hand. »Schlimm, oder?« sagte er und deutete mit dem Kinn auf die Zeitung, während er ihr das Glas hinstellte. Sie schüttelte den Kopf, sie hatte nichts bestellt. Aber Ettore machte eine einladende Geste und bückte sich hinunter zu Lux, die sich gnädig kraulen ließ.
Ich muß ihr beibringen, sich bei fremden Menschen zurückzuhalten, dachte Mary.
»Was wollte der Mann auch hier?« Ettore klang, als ob der Tote selbst schuld daran sei, daß man ihn ermordet hatte.
»Kannten Sie ihn?«
Der Wirt wollte schon den Kopf schütteln, aber dann wiegte er ihn nur. »Er war hier. Er hat gefragt, gefragt, gefragt. Alles wollte er wissen.« Ettore breitete die Arme aus, als umfasse er ganz Blanckenburg.
Mary lehnte sich zurück und nippte am Glas. Die Flüssigkeit wärmte ihr die Kehle. »Und was wollte er alles wissen?«
»Wer auf dem Schloß wohnt. Außer dem Grafen.« Ettore lächelte verschwörerisch, als ob er ein Geheimnis verwaltete.
»Und?« Mary lächelte ihn an und fragte sich, was den Mann ausgerechnet nach Blanckenburg verschlagen hatte. »Sein Sohn, das ist doch bekannt, oder?«
»Nicht sein richtiger. Der junge Graf ist adoptiert. Aus Dankbarkeit – er hat dem Grafen damals das Leben gerettet, als das Schloß brannte.«
An einem der Nebentische hatte sich eine Gruppe gutgelaunter Wanderinnen niedergelassen. Ettore schenkte Mary einen entschuldigenden Blick und sagte, fast schon im Gehen: »Übrigens: Er wollte wissen, ob hier ein Blindenhund vorbeigekommen sei.« Ettore schüttelte amüsiert den Kopf.
Sie sah ihn begriffsstutzig an.
»Na, der Mann in der Zeitung. Der Tote.«
Marys Hand krampfte sich um das Glas. Woher wußte Benny von Lux? Und hatte er sein Wissen weitergegeben, bevor sie ihn töteten? Sie griff nach der Zeitung und schlug sie wieder auf. Es würde nicht dabeistehen, woran genau der Mann gestorben war. »Schwere Verletzungen im Halsbereich.« Sie tippte auf einen zerschmetterten Kehlkopf infolge eines sauberen Handkantenschlags.
Die Handschrift kannte sie. Jemand hatte seine Visitenkarte dagelassen.
Auf dem Weg zurück kam es ihr vor, als ob das Schloß sie beobachtete. Es lauerte ihr auf, es rief nach ihr, es lockte sie. Mary stolperte vorwärts, bis Lux besorgt stehenblieb. Sie holte tief Luft. Es war eine Falle, in die sie gelaufen war wie eine naive Anfängerin, aber noch war Zeit, der Falle zu entkommen.
Ohne Gregor wiederzusehen?
Ohne ihn wiederzusehen. Es
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