Doppelte Schuld
die Tourismusbranche nach Ursprungsmythen verlangt?
Vielleicht war alles besser als die nackte Wahrheit. Und trotzdem … Warum genügte es nicht, einfach nur auf der Welt zu sein?
Zu seiner Beruhigung fand Moritz es plötzlich völlig unerheblich, was für ein Mensch seine Mutter war und warum sie ihn verlassen hatte oder daß er nie erfahren würde, wer ihn gezeugt hatte. Die Linie würde ohnehin aussterben mit ihm, was er nicht schade fand. Gerade er hatte keinen Grund, an so etwas wie Blutsbande zu glauben. Schon gar nicht an die »Stimme des Blutes«. Sonst würden russische Offiziere oder mongolische Krieger auf Panjepferden aus ihm sprechen.
Aber vielleicht stirbt sie gar nicht aus mit dir, die Linie, sagte die vertraute innere Stimme, die er unwillig zu unterdrücken versuchte.
Er fand sich vor der Tür des Vortragssaals wieder, neben dem Aschenbecher und zwei älteren Männern und einer Frau, die hastig an ihren Zigaretten zogen und trotzig und schuldbewußt zu ihm herüber schielten.
Ob Verena womöglich seine Tochter war, hatte er Rebecca nie zu fragen gewagt. Warum auch? Es hätte nur weh getan. Es hätte nur die alte Frage provoziert, die er nie mehr stellen wollte. Warum? Warum hast du ihn nicht verlassen, damals, als noch Zeit war? Erst waren es die Kinder, die du nicht allein lassen konntest. Dann brauchte er dich, im Betrieb. Dann war er krank. Dann hattest du Mitleid mit ihm. Und mich hast du vor dir fliehen lassen, nach Tokio und Boston und Mailand und Paris.
Moritz straffte sich und verließ die Raucherecke, grußlos, was ihm erst auffiel, als es zu spät war. Wahrscheinlich glaubten sich die drei Raucher jetzt mit Verachtung gestraft für ihr asoziales Laster. Als ob ihm das nicht egal wäre. Es gab andere Möglichkeiten, sich zu ruinieren, die nur auf den ersten Blick gesünder waren.
Der Gedanke an Rebecca löste Schuldgefühle in ihm aus, wie immer. Was konnte er Katalina geben im Vergleich zu dem, was er Rebecca zu geben bereit gewesen wäre, hätte sie sich darauf eingelassen?
Aber wollte sie ihn überhaupt haben? Katalina war ein flüchtiges Element. Sie ließ sich nicht ein, auf nichts und niemanden. Zuerst hatte ihn das fasziniert, damals, als sie nach Blanckenburg kam und irgendwie verloren am Rande stand, wenn die damaligen Schloßherrinnen ihre Partys feierten, die sie pompös »Soiree« tauften. Und irgendwann hatte ihn irritiert, daß sie immer auf der Flucht zu sein schien und jede Umarmung darin enden konnte, daß sie sich hastig löste. Die Geschichte seines Lebens schien mit Frauen zu tun zu haben, die nicht blieben.
Aber von allen, fand er heute, hatte Katalina die triftigsten Gründe.
Es hatte lange gedauert, bis sie mit der Sprache herausrückte, und er wußte noch nicht einmal, ob sie ihm alles gesagt hatte. Aber was er wußte, genügte, um zu bezweifeln, daß Katalina guttat, was alle Welt für das richtige, gesunde und normale hielt: sich der Vergangenheit zu stellen. Die wenigsten ahnten wahrscheinlich, welchen Dämonen man da begegnen kann. Katalina jedenfalls hatte sich standhaft geweigert, nach ihrer Familie zu forschen – und er hatte nicht gemerkt, daß er ihr etwas hatte aufzwingen wollen, nur weil er selbst wie ein Besessener nach Spuren seiner Mutter gesucht hatte.
Monatelang war er jedem Anhaltspunkt nachgegangen, es hatte keinen Abend gegeben, an dem er nicht vor dem Computer gesessen hatte. Wann waren Katalina und er das letzte Mal im Viktoria Luise gewesen? Es war ewig lange her.
Und seine Suche war noch nicht einmal erfolgreich gewesen. Er hatte den Namen seiner Mutter in keinem Telefonverzeichnis gefunden. In keiner Partei, in keiner Gewerkschaft. Bei keiner Pensionskasse. Sicher hatte sie geheiratet. Aber auch beim Einwohnermeldeamt existierte sie nicht. Und nichts war zu finden in den Sterberegistern. Wahrscheinlich hatte es den Wissenschaftler in ihm gereizt, die Suche nicht aufzugeben. Welcher Mensch verschwindet schon spurlos?
Die meisten, dachte er, wenn es nicht das staatliche Informationsbedürfnis nach potentiellen Steuerzahlern gäbe. Menschen hinterlassen erstaunlich wenig Spuren – und selbst die Nennung der eigenen wissenschaftlichen Arbeiten im Katalog der Congress Library in Washington garantiert keine Unsterblichkeit. Und wie sehr hatte er sich damals darüber gefreut.
Vielleicht wohnte seine Mutter nicht mehr in Deutschland. Auch diese Möglichkeit hatte er in Betracht gezogen. Er hatte das Rote Kreuz um Auskunft gebeten, war
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