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Doppelte Schuld

Titel: Doppelte Schuld Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anne Chaplet
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tiefstehenden Sonne, als ob es sie locken wollte: Dort hättest du leben können, wenn die Geschichte anders verlaufen wäre. Dort könntest du heute wieder sein, wenn ihr eure Verabredung endlich einlösen würdet, Gregor und du – wir sehen uns wieder in Blanckenburg. Komm doch! Komm und nimm ihn in Besitz, deinen alten Traum …
    Sie verschloß sich gegen die Sirenentöne, die ihr die Poesiebildidylle da drüben zuspielte, wandte dem Schloß den Rücken zu, ging leicht in die Knie, hob die Arme und grüßte die untergehende Sonne. »›Die Krähe fliegt in die Ferne‹.« Während sie die gehobenen Arme wie müde Flügel ausbreitete, abschiednehmend, murmelte sie: »›Hoch oben am Himmel / Krähen mit meines Herzens Sonne / verschmelzen‹.«
    Nach acht Wiederholungen ließ sie sich in den Sessel fallen, hob das Glas in den königlichen Purpur des Abendhimmels und grüßte das Schloß. Es würde das letzte Mal sein.
    Das letzte Mal, daß du dir Illusionen erlaubst, flüsterte es in ihr. Kindische Träume von Neuanfang und Heimkehr. Damals, als du dich entschieden hast, diesen einen Weg zu gehen, hättest du wissen müssen, daß es keine Rückkehr gibt.
    Aber was hatte sie schon gewußt? Sie war viel zu jung gewesen.
    Mary schob sich die Haarsträhne aus dem Gesicht, die sich aus dem Zopf gelöst hatte. Sie wußte nicht mehr genau, wann sie die Entscheidung getroffen hatte, die ihr Leben veränderte. Aber ohne Henry Nowak wäre ihr Leben anders verlaufen.
    Und wie, bitte schön? flüsterte es wieder. Als Gräfin von Hartenfels? Als alleinerziehende Mutter eines Russenbastards? Als brave Ehefrau eines Spätheimkehrers?
    Whatever. Hauptsache als Privatmensch und nicht als Erfüllungsgehilfin der Geschichte.
    Es fing mit Henry an, und es endete mit ihm.
     
    Die Schreibmaschine. Immer sah sie die Schreibmaschine vor sich, wenn sie an den Tag dachte, an dem sie Henry Nowak das erste Mal begegnet war.
    Die Kappel, ein schweres, schwarzglänzendes Monster aus der Maschinenfabrik Kappel in Chemnitz, Baujahr 1939, stand auf einem Extratisch in der Mitte des Raums. Um sie herum eine Frau und ein Mann, von dem man nur den schmalen Rücken in der Uniformjacke sah. Er stand über das verbeulte Blechgehäuse gebeugt und versuchte, die Typenhebel zu entwirren. Die Frau machte einen Schmollmund und sah ihm bewundernd zu, obwohl das bei der Kappel wirklich kein Kunststück war, denn ihr Typenkranz lag vorne und war leicht zugänglich. Aber das wußte Mary damals noch nicht. Sie wußte zwar, was eine Schreibmaschine war, aber so eine hatte sie noch nicht gesehen. Und vor allem hatte sie noch nie eine bedient.
    Das Zimmer. Drei Schreibtische, auf denen sich unterschiedlich vergilbte und zerknitterte Schichten von Papieren und Akten stapelten. Der süße Duft des Zigarillos, den Henry zwischen den Fingern hielt. Das Parfüm, mit dem Tilla, die Frau mit dem Schmollmund, sich etwas zu großzügig eingesprüht hatte. Der Geruch von Asche und Kohlenfeuer. In der Ecke bullerte ein Kanonenofen, der Raum war viel zu warm. In diesem Hungerwinter 1946 hatte sie vergessen, wie es war, einmal nicht zu frieren.
    Sie war nach Haren gefahren auf der Suche nach Arbeit. »Sag nicht Haren«, hatte ihr Vater sie gebeten. Haren gab es nicht mehr, seit das Emsland nach der deutschen Kapitulation polnische Besatzungszone geworden war. Man hatte die deutschen Bewohner aus ihren Häuser vertrieben und das Städtchen in Maczków umbenannt. Sie war auf dem Weg zum polnischen Bürgermeister, man suchte einen Dolmetscher. Die Stadtverwaltung lag an der Straße der 1. Panzerdivision, wie sie früher geheißen hatte, wußte sie nicht, wahrscheinlich Hauptstraße oder Kirchstraße. Sie hielt den Kopf hoch, als sie sich beim Empfang anmeldete.
    In Wirklichkeit suchte man nicht nach einem Dolmetscher, sondern nach einem Mädchen für alles. Die erste Probe ihres Könnens fiel katastrophal aus.
    »Schreiben Sie«, hatte Henry gesagt, nachdem sie sich vorgestellt hatte. Die Kappel roch nach Maschinenöl und nach Farbe, von der die Schrifttypen glänzten. Das schwarzrote Farbband war zerschlissen, das Schriftbild ließ zu wünschen übrig, was allerdings auch an ihren unsicheren Tippversuchen lag. Tilla hatte überlegen gelächelt. Henry hatte an seinem Zigarillo gezogen.
    »Sie sprechen Polnisch«, hatte er schließlich gesagt.
    »Und Englisch. Und Deutsch. Und Russisch. Und Französisch.« Es war ihr peinlich gewesen, wie das alles aus ihr herausgesprudelt kam.

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