Doppeltes Spiel (German Edition)
blätterte sie durch - zum gefühlt tausendsten Mal seit ihrer Abreise.
Margo hatte die Bilder mit ihrer kleinen Automatikkamera geschossen, es waren keine kunstvollen Porträtaufnahmen, sondern ganz normale Schnappschüsse, die lachende, feiernde, fröhliche und unbeschwerte Menschen zeigte. Menschen, denen sie in den nächsten Tagen begegnen würde und denen sie glaubhaft vorspielen musste, ihre eigene Schwester zu sein. Lysette seufzte. Wie hatte sie sich nur darauf einlassen können? Margo hatte es auch als Kind immer wieder geschafft, Lysette mit Druck, Schmeichelei, Betteln, Tränen und Schmollen dahin zu bekommen, wo Margo sie haben wollte. Aber inzwischen waren sie beide erwachsen, jede ging ihren eigenen Weg - warum also hatte sie sich breitschlagen lassen, dieses dumme Spiel mitzuspielen?
Lysette blickte auf das Foto in ihrer Hand. Es zeigte einen wirklich gut aussehenden dunkelhaarigen Mann in den Dreißigern, der strahlend in die Kamera lachte. Er war leger, aber teuer gekleidet und hielt eine ältere Dame im Arm, deren Blick ein wenig skeptisch, aber liebevoll an ihm hing. Im Hintergrund war das Ende einer weiß gedeckten Tafel zu sehen, die auf einer gepflegten Rasenfläche stand. Menschen saßen und standen in kleinen Gruppen plaudernd um die Tafel, auf der Kristall und Silber in der Sonne blitzende Reflexe warf.
Das Foto war auf Tante Genevièves 63. Geburtstag geschossen worden. Sie bestand seit ihrem 60. Geburtstag darauf, jeden weiteren so zu feiern, als sei er ihr letzter. »Man weiß nie, wann einen der Blitz erschlägt«, hatte sie gesagt.
Der Mann war natürlich Philippe, Margos Verlobter, und die ältere Dame besagte Tante Geneviève. Sie hatte Philippe und seinen älteren Bruder großgezogen, weil der Vater der Jungen, früh Witwer geworden, beruflich zu sehr eingespannt war, um sich angemessen um zwei halbwüchsige Söhne zu kümmern.
Lysette nahm das nächste Bild in die Hand. Philippe war darauf zu sehen und ein zweiter Mann, der schräg hinter Geneviève stand, seine Hand auf ihre Schulter gelegt hatte und erstaunlich düster in die Kamera schaute. Er war ein Stück größer als Philippe, im Gegensatz zu diesem hellhaarig, und wirkte insgesamt wie eine athletischere, bodenständigere Ausgabe des strahlenden, charmanten Anwalts.
Das war sein Bruder Nicholas, der »Bauer«, wie Margo ihn abfällig nannte. Er war zwei Jahre älter als Philippe und bewirtschaftete seit dem Tod des Vaters das Weingut der Familie Gaillard in der Nähe von Carpentras.
Lysette blätterte unkonzentriert weiter durch die Fotos. Philippe im Smoking, Philippe im Tennisdress, Philippe beim Segeln irgendwo an der Côte d'Azur. Margo und Philippe nebeneinander auf einem Sofa. Der Salon, von dem ein Ausschnitt zu sehen war, war mit kostbaren Seidentapeten und Stilmöbeln ausgestattet. Tante Genevièves Domizil in Avignon, wie sie sich erinnerte. In ihrem Haus besaß Philippe eine eigene Wohnung.
Das nächste Bild: Weinberge, Rebstöcke in buntem Herbstlaub, ein großer Hund und ein breitschultriger Mann in ausgeblichenen Jeans, der seine Augen mit der Hand gegen die starke Sonne beschattete. Lysette betrachtete das Foto näher. Sie glaubte, den starken Mistral zu spüren, der die schädlichen Insekten von den Reben blies. Wenn ein Provenzale vom Wetter redete, dann sprach er über den Mistral. Der kühle Nordwind war der geheime Herrscher der Provence, und daher stammte auch sein Name: Mistral, das provenzalische Wort für »Meister”. Und der Mann auf dem Foto war der Meister über die Weinberge, die ihn umgaben, Nicholas Gaillard.
Lysette schrak aus ihren Gedanken, denn ein Schatten war über die Bilder in ihrer Hand und in ihrem Schoß gefallen. Sie blickte blinzelnd auf, um den aufdringlichen Menschen zurechtzuweisen, der ihr das Licht nahm, als der Mann schon ungeniert neben ihr Platz nahm und nach einem der Fotos griff, um es zu begutachten. »Das war ihr 63. Geburtstag«, sagte er. »Salut, Margo. Schwelgst du jetzt schon in Erinnerungen?«
Groß, hellhaarig, wettergegerbt und dunkelbraun gebrannt. Breite Schultern, die trotz der Wärme in einer weichen Lederjacke steckten. Der herbe Duft nach Leder und Rasierwasser. Hellgrüne Augen, die sie weder freundlich noch unfreundlich musterten.
Lysette räusperte sich, denn ihr war mit einem Mal vor Nervosität die Kehle eng und der Mund trocken geworden. »Salut, Nicholas«, brachte sie heraus.
»Ich bin dein Chauffeur. Philippe lässt sich entschuldigen,
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