Dornenkuss - Roman
schmerzte und ein leichter Druck auf meinen Ohren lastete. Ich hatte sofort meinen Hals und meine Leisten abgetastet und mein Herz hatte dabei so schnell zu schlagen begonnen, dass mein Atem für einige Minuten beinahe pfeifend ging. Es gab keinen Zweifel: Sie waren dicker geworden. Außerdem hatte ich Fieber. Keine dramatische Temperatur, dazu war mein Kopf noch zu klar, aber in meinen Gliedmaßen nistete sich ein dezenter, allumfassender Schmerz ein, den ich nicht wegschieben konnte. Genau wie jetzt fühlte ich mich, wenn ich krank wurde. Oder wenn ich stundenlang geweint hatte. Aber ich hatte nicht geweint, keine einzige Träne. Ich hätte es gerne getan, um mir ein wenig Erleichterung zu verschaffen, doch ich hatte Angst, es würde mich zu sehr anstrengen.
Fing es schon an? War das der Beginn? Ich hatte Paul nichts davon gesagt. Als er frühmorgens in das überhitzte Dachzimmer gekommen war, um nach uns zu sehen und uns über unser Befinden auszufragen, hatte ich gelogen. Alles so weit okay, musst mich nicht untersuchen. Ich wusste, dass das fahrlässig und kindisch war, doch ich konnte es ihm nicht sagen, niemandem konnte ich es sagen, obwohl meine Vernunft in meinem Kopf mit einem permanenten Dröhnen dagegen protestierte und mich anbrüllte, endlich meinen Mund aufzumachen. Doch ich hatte Angst, dass es dann erst wahr würde, wenn ich es aussprach. Dass ich damit einen Stein ins Rollen brächte und eine Kettenreaktion auslöste, die nicht mehr zu stoppen war und mit meinem Tod endete. Solange ich nicht über die geschwollenen Lymphknoten und das Fiebergefühl redete, würde sich womöglich alles in Wohlgefallen auflösen, als wäre es nie da gewesen. Doch sobald sich jemand damit befassen würde, sobald jemand das Wissen darum teilte, würde sich die Krankheit bemüßigt fühlen, mit aller Kraft ihren barbarischen Weg der Vernichtung zu beschreiten. Dann gab es kein Zurück mehr.
Außerdem fürchtete ich das, was Paul mit mir tun würde, wenn ich es ihm sagte. Er würde mich in eine Klinik bringen, hier in Süditalien, in einem Land, dessen Sprache ich nicht verstand und wo ich mich einsam und verlassen fühlen würde, weit weg von den Menschen, die mir etwas bedeuteten. Weit weg von Colin. Es würde Mama auf den Plan rufen, sofort, natürlich würde Paul sie informieren. Sie würden mich zum Sterben nach Hause holen und ich würde nichts mehr dagegen ausrichten können, weil ich zu schwach wäre. Vielleicht würde ich Colin dann niemals wiedersehen, weil Mama mir den Umgang mit ihm verbot und er sich schuldig fühlte.
Gianna und Tillmann hatten gut reden. Ihre Lymphknoten waren unverändert, Fieber hatten sie beide keines. Ihnen war im Laufe der Nacht übel geworden, zuerst Tillmann, wahrscheinlich doch eine Spätfolge des Mords und unseres Trips, dann gegen Morgen Gianna, mit Bauchkrämpfen und Durchfall, doch sie hatten sich jeweils schnell gefangen und Gianna meldete sogar einen kräftigen Appetit, was sie selbst verwunderte, mich aber weniger. Gianna schwankte ständig zwischen diesen beiden Extremen, Hunger und Übelkeit. Ihr Magen war ihr Stimmungsseismograf und ihre wechselnden Launen hätte ich nicht einmal mir selbst zugetraut, nicht in meinen schlimmsten Phasen. Sie war unberechenbar geworden. Ja, wir standen alle unter großem Druck, aber sich mit Gianna zu unterhalten, glich einem Ritt auf dem Pulverfass.
Außerdem musste ich ihr den Rücken zuwenden, wenn ich mit ihr sprach, denn sie fürchtete meinen Atem. Tillmann blieb die meiste Zeit stumm und in sich gekehrt, ohne großartig auf uns zu achten. Er stand noch immer unter Schock. Das redete ich mir jedenfalls ein, denn sonst hätte ich seine permanente Abweisung nicht ertragen können. Doch Gianna verstand ich nicht. Als ich ihr von meinem Trauma wegen Colins Erinnerungsraub erzählt hatte, hatte sie mir zugehört und war für mich da gewesen, und das, obwohl sie in der Nacht zuvor mit Pfefferspray um sich gesprüht hatte vor lauter Panik. Sie hatte sich relativ schnell wieder gefangen und mir sogar Essen gekocht. Jetzt erkannte ich sie manchmal kaum wieder. Darüber hinwegsetzen konnte ich mich nicht, dazu spürte ich ihre Furcht vor meiner Gegenwart zu deutlich. Nahm sie mir übel, dass wir sie in das alles mit hineingezogen hatten? Oder war es wirklich allein die Angst vor meinen möglichen Keimen?
Nun schliefen Tillmann und Gianna, nur ich war wach. Ich hasste es, das zu tun, aber ich befreite erneut meine Hände aus dem
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