Dornenkuss - Roman
dich, wenn du das bewahren könntest. Also, möchtest du mir die Spritze setzen?«
Diese Frage bedurfte keiner Antwort, wobei ich den Verdacht hegte, dass Paul hier eher für eine Beschäftigungstherapie sorgte, damit ich keinen Nervenzusammenbruch erlitt. Im Notfall hätte er sich die Injektion auch selbst geben können. Ich ließ mir zweimal erklären, was ich zu tun hatte und worauf ich achten musste. Dann desinfizierte ich meine Hände, zog sterile Handschuhe über, die Paul im Flur deponiert hatte, und setzte die Spitze der Kanüle auf Pauls Haut.
»Jetzt bloß nicht pupsen, ja?«
Pauls Hintern wackelte kurz vor Lachen. Ich hatte keine Ahnung, woher unser Humor kam, aber es war besser zu lachen, als den Verstand zu verlieren. Ich wusste nur nicht, wie lange ich das noch durchhalten konnte.
Ich musste mehr Kraft als erwartet aufbringen, um die feine Kanüle durch die Haut zu stechen. Ich hatte es mir wesentlich einfacher vorgestellt. Jetzt hatte ich eine Ahnung davon, welche Wucht Tillmann hatte aufwenden müssen, um das Messer in Tessas Brust zu versenken, und wie rücksichtslos Colin mit sich selbst umgegangen war. Doch ich versuchte mich auf das zu konzentrieren, was getan werden musste, und nicht auf das, was schon geschehen war.
»Tessa ist also krank«, fasste ich Pauls Bericht zusammen, nachdem er seine Hose hochgezogen hatte. »Schwer krank? Denkst du, dass sie es vorher schon war oder jetzt erst geworden ist … durch das, was wir getan haben?« Vielleicht hatte Tillmann ja ihre Lunge getroffen und nicht ihr Herz.
»Nein, nicht durch den Schnitt. Es ist seltsam, es befand sich kaum Blut am Messer. Die Wunde ist oberflächlich und ihr Herz schlägt schnell, aber in einem normalen, kräftigen Rhythmus. Vielleicht verträgt sie die moderne Welt nicht und die Umweltgifte und der Elektrosmog setzen ihr zu. Ich glaube aber eher, dass sie vorher schon krank war und es mit allem zusammenhängt.«
»Mit allem zusammenhängt?« Das war mir zu kryptisch.
»Überleg doch mal, Ellie. Gibt es einen besseren Grund, sich verwandeln zu lassen und ewiges Leben geschenkt zu bekommen, als todkrank zu sein? Sie hat es wahrscheinlich dankend angenommen oder sogar danach gegiert. Sie wirkt gierig auf mich. Gierig und dumm. Außerdem trägt sie das Kainsmal auf dem Nacken. Darauf hat Colin mich aufmerksam gemacht.«
»Das Kainsmal? Was ist das?«
»Ein Brandzeichen, mit dem man Huren im Mittelalter markiert hat, sodass jeder sehen konnte, was sie waren. Mal wurde es im Nacken angebracht, mal direkt im Gesicht. Ich will nicht sagen, dass sie deshalb schlecht ist, sondern vermutlich aus zerrütteten Verhältnissen kam und bettelarm war.« Paul hob entschuldigend die Achseln. »Wir haben es hier mit dem Menschen zu tun, nicht mit dem Dämon. Aber sympathisch ist sie mir nicht.«
Tessa war also eine Hure gewesen … Obwohl ich wusste, dass es ungerecht war und Paul mit seiner Theorie, dass sie aus ärmsten Verhältnissen stammte, recht haben musste, verstärkte dieser Gedanke meinen Abscheu ihr gegenüber. Colin hatte mal gesagt, dass Menschen, die von niedrigen Motiven getrieben wurden, sich zu den verheerendsten Mahren entwickelten, sobald sie verwandelt worden waren. Tessa hatte als Mensch vielleicht niemanden ermordet wie François, aber die Gier und die Wollust waren ihr schon immer eigen gewesen. Davon war ich überzeugt. Ob sie den Beruf der Hure sogar gerne ausgeübt hatte? War das denn überhaupt möglich?
»Alleine wegen des Kainsmals können wir sie nicht in ein Krankenhaus bringen, Paul. Das würde auch jemand anderem auffallen. Wir müssen hierbleiben!«
Das war die einzige Möglichkeit: Wir mussten hierbleiben. Und ich hatte die Spritze Paul gegeben, anstatt sie für mich reservieren zu lassen. Doch es war gut so, auch wenn es mich selbst in Gefahr brachte. Mein Bruder musste sich ebenso schützen können wie wir uns. Wieder krachte im Salon etwas auf den Boden und wir hörten ein entzücktes Glucksen, das in ein hässliches Lachen und dann in einen Gurgellaut überging.
»Mach, dass das aufhört, bitte«, flehte ich.
Paul nickte. »Sie will sich nicht hinlegen, aber Valium habe ich ja genug da. Braucht ihr welches?«
»Ich weiß es nicht. Ich glaube, ich möchte keines.« Ich hatte Angst, es zu verschlafen, wenn meine Lymphknoten anschwollen, oder andere Symptome nicht zu bemerken. Ich wollte wach bleiben.
»Gib Klopfzeichen, wenn ihr etwas braucht. Colin und ich kümmern uns um alles andere. Bleib
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