Dornenkuss - Roman
schweißfeuchten Laken, in das ich mich gewickelt hatte, und tastete meinen Hals ab. Unverändert. Geschwollene Lymphknoten, die unter dem Druck meiner Finger wehtaten.
Obwohl ich gerne laut geschrien hätte, versuchte ich, sachlich zu bleiben. Noch konnte ich denken, also sollte ich es tun. Geschwollene Lymphknoten konnten durch alles und nichts ausgelöst werden. Sie zeigten lediglich, dass die Immunabwehr des Körpers angeregt worden war. Die Ursache konnte ganz simpel sein: vielleicht eine mild verlaufende Zahnfleischentzündung, eine leichte Erkältung oder ein Prozess, den wir gar nicht bemerkten. Ein Insektenstich. Ein Flohstich? Ein Flohstich ohne Folgen? Es konnte sich auch um eine Nachwirkung handeln. Manchmal blieben Lymphknoten geschwollen, weil der Körper gerade etwas überwunden hatte. Ich hatte einen grippalen Infekt gehabt, als wir hierhergefahren waren. Doch das Anschwellen der Knoten war neu, es war vorige Nacht erst gekommen – vielleicht kämpfte mein Körper genau deshalb mit doppelter Kraft, weil er durch die Erkältung noch geschwächt war? Was wiederum bedeutete, dass ich anfälliger war als die anderen? Wer konnte mir das schon sagen? Es gab tausend Möglichkeiten. Jedenfalls war ich die Einzige, die gestochen worden und in der letzten Zeit krank gewesen war. Paul hatte eine Reihe von Zipperlein, die ihn nervten, aber krank war er nicht gewesen.
Und die anderen Symptome? Kurioserweise war mir als Einziger nicht schlecht geworden; ich aß allerdings auch wie ein Spatz, weil ich meinen Körper nicht mit den Verdauungsvorgängen belasten wollte. Ich trank vor allem Wasser und Tee, nicht viel, aber auch nicht zu wenig. Natürlich war mir flau und meine Gedärme rumorten, aus Nervosität und Hunger, doch eine Pestübelkeit stellte ich mir schlimmer vor.
Weiter im Symptomkatalog: schweres Krankheitsgefühl. Was zum Henker war ein schweres Krankheitsgefühl? Konnten die Mediziner sich nicht ein bisschen konkreter ausdrücken? Manchmal fühlte ich mich schwer krank, obwohl ich es gar nicht war. Bedeutete schweres Krankheitsgefühl, dass man glaubte, in den nächsten Sekunden den Löffel abzugeben, oder war es ungefähr so, wie wenn man eine Grippe bekam, mit Gliederschmerzen und Schüttelfrost?
Das war auch etwas, was mich beunruhigte (ach, von wegen beunruhigte – ich war kaum mehr bei Verstand vor Angst!): Immer wieder durchlief mich ein kaltes Frösteln, das mich schüttelte, bis ich das Zähneklappern nicht unterdrücken konnte. Dann brach mir der Schweiß aus, so schnell, dass innerhalb von Sekunden mein Gesicht damit bedeckt war, und das Schlottern ebbte ab. Ja, mein Körper kämpfte, doch gegen was? Hatte er noch mit dem Trip zu tun, waren es Nachwirkungen meiner Drogenreise oder begann die Pest sich in mir breitzumachen?
Gibt es einen besseren Grund, sich verwandeln zu lassen und ewiges Leben geschenkt zu bekommen, als todkrank zu sein?
Obwohl Gianna schnarchte und das Blut in meinen Ohren rauschte, versuchte ich, meine gesamte Aufmerksamkeit auf die Geräusche von draußen zu richten. Heute Nacht durfte ich ihn nicht verpassen. Irgendwann musste er Louis eine Pause gönnen, irgendwann würde er satt sein. Laut Pauls harschen Quarantäneregeln durfte ich unseren Dachboden nicht verlassen, aber eigentlich konnten Gianna und Tillmann froh sein, wenn ich es mal tat und sie nicht mit meinem Pestilenzatem behelligte. Ich würde nichts berühren im Haus und draußen auf der Straße war um diese Uhrzeit niemand unterwegs. Ich würde sowieso auf unserem Grundstück bleiben. Ich wollte nur etwas aushandeln, mehr nicht, das musste mir gestattet sein. Es ging schon gar nicht mehr um meine Sehnsucht oder das Gefühl, alleingelassen worden zu sein. Es ging nur noch ums Überleben.
Erst gegen Morgen, als ich schon erbitterte Kriege gegen meine Erschöpfung und den Schlaf focht, der sich auch von der größten Angst nicht seine Kraft nehmen ließ, vernahm ich plötzlich das Trappeln von Louis’ schweren Hufen auf der staubigen Straße.
Geräuschlos wie ein Gespenst erhob ich mich von meinem Lager, schlich durch die Tür und tapste barfuß die Treppe hinunter. Als ich die Salontür passierte, wandte ich mich ab. Ich wusste nicht, was da drinnen vor sich ging, und ich wollte es auch nicht wissen. Noch immer roch es penetrant nach Desinfektionsmitteln und Krankenhaus. Pauls Arztkoffer stand aufgeklappt im Flur, doch er selbst schien zu schlafen. Es blieb alles ruhig.
Erleichtert flüchtete ich
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