Dornenkuss - Roman
ganzes Leben begleitete und mit ungeahnten Glücksgefühlen erfüllte, während ich in ihm versank, und umso brutaler mit der grauen Realität konfrontierte, sobald er mich wieder ausspuckte. Noch nie war er so klar und echt gewesen wie in dieser Nacht.
Ich hätte schreien können vor Freude, als ich die Augen öffnete und das Flirren des Lichts hinter den Läden mich daran erinnerte, dass es heute gar keine Konfrontation mit der Wirklichkeit geben würde. Ich war im Süden. All das, worin ich mich eben noch staunend bewegt hatte, lag vor meinem Fenster. Ich musste nur aufstehen, die Läden öffnen und hinunter ans Meer laufen. Nie waren Traum und Realität sich näher gewesen als in diesen erquickenden Sekunden. Ich würde nicht enttäuscht werden, nicht einmal von der Leere und Ödnis des hiesigen Strandes. Auch in meinen Träumen hatte es keine Palmen, Bars oder feinen, hellen Korallensand gegeben. Das brauchte es gar nicht.
Die Freiheit, die ich darin spürte, war es, die pure Energie durch meine Adern strömen ließ, gepaart mit dem sicheren Wissen, alles überstehen zu können, was das Leben für mich bereithielt, wenn ich nur hier am Wasser blieb und mein Gesicht der Sonne zuwendete. Vorbei waren die düsteren Träume vom Nordmeer, die mich im Winter geplagt hatten und in denen ich immer wieder von der eisigen Kälte hinabgezogen worden war.
Die Sonne war da, sie schien. Ich konnte es an den hellen Streifen erkennen, die sich durch die Ritzen der Läden auf die Decke malten, so zuverlässig und treu. Es würde ein schöner Tag werden. Selbst wenn Wolken aufziehen würden, wie sie es während der Siesta manchmal taten: Bis zum Abend würden sie wieder verschwunden sein. Es würde ohnehin immerzu warm bleiben.
Wie habe ich nur so blind sein können?, fragte ich mich, als ich aufstand und die Läden aufstieß, um mich so intensiv wie nie zuvor am Duft des Meeres und des verdorrenden Grüns zu erfreuen. Kopfschüttelnd dachte ich an meine ersten Tage in Italien zurück. An allem hatte ich etwas zu bemängeln und auszusetzen gehabt. Dieses Land war mir zu laut, zu schmutzig, zu hektisch, zu karg gewesen. Ja, Kalabrien war karg, aber war das etwas Schlechtes? Es war eine Folge der Sonne und die war es doch, die ich jahrelang vermisst hatte. Keine Chance zu frieren. Jeden Tag nackte Füße. Kaum Stoff auf der Haut, keinerlei Ballast, keine unnötigen Pflichten, weil die Menschen sich trotz ihrer sympathischen Eile Zeit ließen. Zeit zu leben. Nur in der Kälte wurde man geschäftig.
Ich hätte viel eher darin eintauchen sollen, denn möglicherweise hatte ich bald keine Gelegenheit mehr dazu. Ich ärgerte mich über mich selbst; ich hatte mich gegen all das hier gespreizt und über meinem geballten Unmut nicht begriffen, was mir geschenkt wurde. Doch jetzt wusste ich es und es würde mir hoffentlich die nötige Kraft geben, mich meinem heutigen Unterfangen zu stellen. Denn heute war ein Tag der Tat, nicht des Müßiggangs. Es war mein allerletzter Versuch, etwas an meinem Schicksal zu ändern.
Die anderen hatten gedrängt, endlich etwas zu unternehmen oder aber abzureisen. Nun sei schon eine Woche vergangen, was sollten wir hier noch? Tessa war tot, doch von meinem Vater keine Spur. Ich fühlte mich von ihnen unter Druck gesetzt. Tillmann war unangenehmerweise dazu übergegangen, mich in kühler Schweigsamkeit zu beobachten, anstatt mit mir zu reden – ich hätte niemals gedacht, dass er so nachtragend sein konnte –, und Pauls Verständnis für mich schwand mit jedem neuen Tag. In guten Momenten wollte er gemeinsam mit mir losziehen, um Papa zu suchen, doch das wiederum war Gianna nicht durchdacht genug, sie bremste ihn aus, während Paul langsam daran zugrunde ging, dass er offenbar immer noch zur Passivität verdammt war.
Ich wollte ihnen etwas bieten, was sie veranlassen würde, mir mehr Zeit zu geben. Irgendein Indiz, eine Spur, ein Verdachtsmoment. Für Colin brauchten wir diese Zeit sowieso. Er musste immer länger wegbleiben, um satt zu werden. Wir würden warten müssen, um mit ihm über Papa sprechen zu können, und wenn ich bis dahin schon etwas herausgefunden hatte, würden die anderen sich darauf einlassen. Sie mussten es!
So hatte ich gestern Abend Papas Mahrkarte aus dem Seitenfach meines Koffers gezogen und sie ein letztes Mal gründlich unter die Lupe genommen. Sie war inzwischen zerknittert, doch das Kreuz in Italien hatte Papa so deutlich gesetzt, dass ich gar nicht erst danach suchen
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