Dornenkuss - Roman
Durchkommen. Wenn ich sie umrundete, kam ich dem Abgrund neben mir gefährlich nahe oder musste den Außenspiegel einklappen, damit ich nicht die Felsen rammte. Offenbar wurde die Gegend im Herbst und Frühling von Erdrutschen heimgesucht. An manchen Stellen war die Straße zum Hang hin einfach abgebrochen, sodass ich all meinen Mut aufbringen musste, um weiterzufahren. Eine andere Möglichkeit hatte ich sowieso nicht; zum Wenden war kein Platz, und sobald ich es geschafft hatte, meine Angst vor einem Absturz hinunterzuwürgen und die schmalen Passagen zu überwinden, beflügelte mich das so sehr, dass ich weiterfahren wollte.
Dörfer gab es hier oben nur noch vereinzelt und sie sahen nicht einladend aus. Rinder dösten wiederkäuend im Schatten am Rande der Straße, manchmal auch mitten auf dem löchrigen Asphalt, und glotzten mich dumpf an, wenn ich sie vergeblich wegzuhupen versuchte. Der Wald wurde dichter. Ich konnte nicht sagen, ob es jener Wald war, in den Colin mich entführt hatte; ich erkannte nichts wieder. Die Tannen erinnerten mich beinahe an den Schwarzwald. Sie wuchsen Ehrfurcht gebietend finster in die Höhe und Breite, aber der Boden unter ihnen war trocken. Ein Funke würde genügen, um sie in Brand zu setzen. Trotzdem meinte ich, an einer Kurve eine Quelle sprudeln zu hören.
Menschen begegnete ich kaum. Einmal tauchte wie eine Halluzination ein alter Mann vor mir auf, der am Wegesrand auf einem Stein saß, seine Arme auf den Stock gestützt, eine staubige blaue Mütze auf dem Kopf. Was tat er hier? Bewachte er die Straße? Beinahe sah es so aus und ich erwartete schon, dass er mich anhalten und zurückschicken würde. Ich entschied mich für einen freundlichen Gruß und wider Erwarten hellte sich sein Gesicht auf, als er mich erblickte, und er hob seine knorrige Hand, um mein Ciao winkend zu erwidern. Doch über den Rückspiegel sah ich, wie er sofort wieder in seine abwartende Starre verfiel, sobald ich ihn hinter mir gelassen hatte.
Auf meine Karte musste ich nicht mehr schauen; ich wusste, dass ich die Orientierung verloren hatte, das war ja nichts Neues für mich. Ich regte mich nicht einmal darüber auf. So lief das eben, wenn Ellie Sturm auf eigene Faust etwas mit dem Auto unternahm. Dumm nur, dass es hier weder Tiefgaragen noch Taxis gab.
Trotzdem fädelte ich mich immer weiter die Berge hinauf, bis die Außentemperatur nur noch bei 28 Grad lag, zehn Grad weniger als bei meinem Aufbruch unten am Meer. Dafür wanderte der Zeiger der Motorentemperaturanzeige kontinuierlich nach oben in den roten Bereich, was ich nicht verstand, denn wie sollte der Motor überhitzen, wenn es doch immer kühler wurde? Ich musste zwei weitere Kühe umrunden, bis ich erneut mit zusammengekniffenen Augen auf das Armaturenbrett blinzeln konnte. »Temperature high«, leuchtete es mir nun in roten Buchstaben entgegen. Wie hilfreich. Konnte das blöde Auto mir nicht auch höflicherweise verraten, warum das so war?
Sollte ich sicherheitshalber den Motor ausschalten und den Wagen abkühlen lassen? Aber was, wenn er dann nicht mehr ansprang? Ich hatte keine Ahnung, wo sich das nächste Dorf befand und ob ich den Menschen dort überhaupt begreiflich machen konnte, was mein Problem war. Mein Italienisch hatte sich verbessert, sehr sogar, aber dieser Sachverhalt würde mein Vokabular sprengen.
Also fuhr ich mit verkrampftem Nacken weiter, das Blinken ignorierend, bis plötzlich weißer Qualm aus der Motorhaube quoll, nicht nur ein bisschen, sondern ein kleines Höllenfeuer. Sofort dachte ich an explodierende Autos und bis zur Unkenntlichkeit verkohlte Insassen, parkte den Wagen am Straßenrand, schaltete den Motor aus und flüchtete. Erst nach ein paar Metern, die ich mit geducktem Kopf und den Händen auf den Ohren zurückgelegt hatte, wagte ich es, mich umzudrehen. Immer noch dampfte der Volvo vor sich hin, wie ein alter Drache, der gerade erst wach wurde, um dann zu Höchstform aufzulaufen und alles um sich herum mit seinem glühenden Atem zu versengen. Ich musste hier weg. Entweder explodierte der Wagen tatsächlich oder aber der Spuk war vorbei, wenn ich nach einer halben Stunde zu ihm zurückkehrte, und ich konnte meine Fahrt fortsetzen. Wenn sich etwas aufheizte, konnte es sich theoretisch auch wieder abkühlen. Darauf musste ich vertrauen.
Ich wunderte mich ein wenig darüber, dass ich nicht heulte oder zitterte, wenigstens eine leichte Besorgnis empfand, doch rational betrachtet hatte ich keinen Grund
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