Dornenkuss - Roman
ihn, nicht um mich. Er wollte sich zur Besinnung bringen, sich wehtun, ohne dass es je glücken konnte. Hupend und unter lautem Radioplärren knatterte der Obstmann an uns vorbei. Es war einer dieser dummen, unpassenden Gedanken, die aus dem Nichts auftauchten, wenn niemand sie brauchte, aber mir fiel ein, dass ich noch eine Melone und Nektarinen kaufen wollte. Es schien mir dringender als alles andere, dieses Vorhaben umzusetzen, doch mir war zu übel, um aufzustehen.
Nach einigen Minuten, in denen der Obsthändler unbekümmert schreiend seine Gaben anpries, stieg Colin wieder in den Wagen.
»Um unserer Liebe willen …«, begann er mit rauer Stimme. Er hörte sich uralt an. »Um unserer Liebe willen lasse ich dir deine Freiheit und bete, dass ich es nie bereuen werde. Tu, was du nicht lassen kannst.«
»Ich will doch gar nichts mehr tun«, erwiderte ich. Auch meine Stimme war rau. »Nur ein bisschen leben, ohne mir über alles und jeden Gedanken zu machen, ohne Gefängnisse. Ein paar Tage. Das mit Papa hat sich erst einmal sowieso erledigt.«
»Merkst du, dass sie immer kürzer werden, Lassie? Die Momente, in denen wir beisammen sein können? Seitdem sie tot ist, ist es, als trage ich ihre Gier in mir.« Gehetzt huschten seine Augen über das trockene Gebüsch neben der Unterführung. Dabei lebte hier gewiss kein Wild. Es war ein purer Reflex. Ich spürte, wie all seine Gedanken von mir wegdrifteten und sein Hunger machtvoll aufbegehrte. Wenn wir länger warteten, würde er sich gegen mich richten. »Ich muss weg, Ellie. Ich muss wieder gehen …«
»Dann geh, Colin. Ich verstehe es.« Ich verstand es, obwohl mein Bauch rebellierte, es nicht wahrhaben wollte. Es konnte doch nicht alles umsonst gewesen sein! Hoffentlich würde er endlich ein Rudel Wölfe finden und einige Tage lang satt bleiben können.
Ich wagte es nicht, ihn zu küssen; hier, in seinem Wagen, musste ich mehr um mein Heil bangen als gerade eben in Angelos Revier. Ich stieg wortlos aus und lief zu Fuß zu unserem Haus zurück, während Colin den Wagen wendete und hoch in die Sila fuhr, um seinen Hunger zu stillen, während Charlotte irgendwo da draußen in einer Bar saß und vergeblich auf ihn wartete. Eine aberwitzige Sekunde lang überlegte ich, zu ihr zu fahren und ihr alles zu erzählen. Doch was nützte es? Nichts. Mir selbst half es nur, Colin zu verstehen, doch an seinem zehrenden Hunger änderte es nichts. Er überschattete alles.
Nachdem die Sonne untergegangen war, setzte ich mich neben das Duschbecken in den Garten und zog die gestohlene Seite aus meinem Ausschnitt, um Angelos Zeilen im schwindenden Licht des Tages zu lesen. Ja, es war ein Gedicht, ich hatte mich nicht getäuscht – Mondnacht von Eichendorff. Ich kannte nur den Taugenichts , wir hatten ihn in der Schule durchgenommen und ich war mehr genervt als begeistert gewesen, doch dieses Gedicht war klarer, strukturierter, kunstvoller. Wenn man es hatte, brauchte man kein Buch mehr. Ich las es immer wieder, bis die Worte ihren festen, unverrückbaren Platz in meinem Inneren gefunden hatten.
»Und meine Seele spannte weit ihre Flügel aus, flog durch die stillen Lande, als flöge sie nach Haus.«
In dieser Nacht überwand ich meine Scheu und traute mich zum ersten Mal, meinem Drang nachzugeben und den Skorpion zu berühren. Er fühlte sich anders an, als ich erwartet hatte, glatt, warm und doch widerspenstig, aber er duldete mein zartes Streicheln und blieb reglos sitzen, bis ich meine Finger wieder von ihm löste. Dann bewegte er kurz seine Scheren, ein verschworener Gruß. Er hatte mich verstanden.
Stolz, meine Furcht überwunden zu haben, ohne dass mir etwas zugestoßen war, sank ich in einen wohltuenden Schlaf, der mir von der ersten Sekunde an schöne, wilde Träume schenkte.
H IGH H OPES
»Mehr«, flüsterte ich, nachdem die Helligkeit gesiegt und mich aus dem Reich der Nacht vertrieben hatte. »Bitte mehr davon …« Ich lächelte immer noch, so wie ich es den ganzen Traum über getan hatte. Ein endlos langer Traum? Oder mehrere Träume, die ineinander übergegangen waren? Ich wusste es nicht, doch es war unerheblich, denn eine logische Handlung hatte er nicht gehabt; die brauchte er gar nicht. Es war ums Erleben gegangen, nicht ums Handeln. Ich war am Meer gewesen. Am Meer des Südens. Gleißende Sonne, eine blaue Himmelskuppel, schmeichelnder Wind, das Wasser warm und weich, weiße Schaumkrönchen auf den Wellen … Ein Traum, der mich schon fast mein
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