Dornenkuss - Roman
musste. Dann nahm ich eine größere Straßenkarte Kalabriens zur Hand. Vielleicht meinte das Kreuz nicht nur eine Region, sondern einen ganz konkreten Ort – ein Dorf oder Städtchen, das in der Europakarte nicht verzeichnet war, wohl aber auf unserer Straßenkarte.
Doch mein Zeigefinger strandete immer wieder zwischen mehreren Dörfern und Städten in den Bergen oberhalb von Calopezzati. Also im Nirgendwo – vorausgesetzt, mein Verfahren war richtig. Auch daran zweifelte ich, schließlich war die Europakarte eher klein und ungenau. Doch die Hoffnung, etwas herauszufinden und den anderen beweisen zu können, dass ich nichts unversucht ließ, trieb mich dazu, diesen Punkt wenigstens anzusteuern.
Paul und Gianna hatten gestern Abend bereits damit gedroht, die Zelte abzubrechen und heimzufahren. Ich wollte hier nicht weg, noch nicht. Es war mein erster richtiger Sommer, den durften sie mir nicht nehmen, egal, wie bejammernswert er bisher verlaufen war. Ja, auch mich belastete die Ausweglosigkeit der Situation, wenn ich darüber nachdachte. Dieses Land war viel größer und weitschweifiger, als ich angenommen hatte. Mein Vater konnte überall und nirgendwo sein. Doch es konnte alles noch gut werden. Mein Entschluss jedenfalls war gefasst.
Ich wollte ganz alleine aufbrechen, während der Siesta, wenn die anderen schliefen. Sie wussten nichts von meinen Überlegungen. Auch Colin hatte ich nicht einweihen können, er war schon seit Tagen in der Sila unterwegs, aber ich fürchtete, dass er es mir sowieso zu verbieten versucht hätte. Paul hingegen hätte es sicher gutgetan, aktiv zu werden. Doch er wäre nur mit Gianna mitgefahren (Gianna ließ ihn keinen Schritt mehr ohne sie machen, sie klammerte wie eine Klette) und eine Person, die meine Nähe mied, wollte ich nicht im Auto haben. Es verunsicherte mich. Hier im Haus oder am Strand konnte ich Giannas zwanghafte Abgrenzung einigermaßen akzeptieren, weil genügend Ausweichmöglichkeiten bestanden, aber selbst der geräumige Volvo war zu klein, um darüber hinwegzusehen. Wir atmeten die gleiche Luft, befanden uns nur wenige Zentimeter voneinander entfernt. Es würde mich nervös machen, wenn Gianna dabei war, und der Gedanke an das, was ich vorhatte, machte mich ohnehin nervös genug.
Deshalb entschied ich mich, erst einmal so zu tun, als sei heute ein ganz normaler Urlaubstag, bereitete das Frühstück für die anderen zu – ich selbst beschränkte mich auf Kaffee und Obst – und ging hinunter ans Meer, um mich abzulenken. Es gelang mir nur, wenn ich mich mit offenen Augen zurück in meine Träume versetzte oder weit hinausschwamm, und als ich endlich aufbrach – der Volvo parkte noch vom Einkaufen auf der Straße, sodass ich niemanden wecken würde –, zog sich mein Bauch unruhig zusammen. Meine erste Fahrt allein in diesem Land stand mir bevor. Ich hatte nur eine Karte, kein Navigationssystem; das hatte Paul in den kleinen Safe in seinem Schlafzimmer gesperrt und es hätte ihn misstrauisch gemacht, wenn ich ihn nach der Zahlenkombination gefragt hätte. Immerhin hatte ich es geschafft, mich über mein Handy ins Internet einzuloggen und Google Maps zu befragen. Ein sündhaft teures Unterfangen, doch am Geld sollte es nicht scheitern.
Es scheiterte an der Verbindung. Das hätte ich mir eigentlich denken können, dachte ich fluchend, als nach der dritten steilen Kurve den Berg hinauf das Internet ausfiel und mein Handy piepsend verkündete, dass es kein Netz mehr fand. Und nun? Umkehren? Nein, dazu war ich nicht weit genug gekommen, das Meer war noch zu nahe und der Markierungspunkt viel zu weit weg. So schnell durfte ich nicht aufgeben. Es war doch ganz einfach: Solange ich das Meer sah, würde ich auch zurückfinden, irgendwie. Ich würde so weit fahren, bis es aus meinem Blickfeld verschwand. Dann konnte ich immer noch umkehren. Bis zu diesem Punkt war ich auf der sicheren Seite.
Aber ich hatte bald keine Muße mehr, mich nach dem Meer zu orientieren. Während die Außentemperatur sank und die Temperatur im Wagen anstieg – ein Zusammenhang, den ich mir ganz und gar nicht erklären konnte –, entwickelte die Straße sich zu einer lebensgefährlichen Geröllpiste, ohne seitliche Befestigungen und Mittelstreifen und oft so schmal, dass ich mich fragte, wie ich einem entgegenkommenden Fahrzeug außerhalb der kleinen Buchten, die ab und zu in den Fels gehauen worden waren, ausweichen sollte. Immer wieder behinderten dicke Gesteinsbrocken das
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