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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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dazu. Ja, irgendetwas stimmte mit dem Wagen nicht und ich wusste nicht, wo ich war, aber es gab keine wilden Tiere hier oben und ich stand auch nicht kurz davor, zu verdursten oder zu verhungern. Ich fühlte mich sogar kräftig genug, um die Straße weiter hinaufzugehen, und das tat ich auch, nur weg von dem dampfenden Ungeheuer hinter mir. Nach der nächsten Kurve entdeckte ich ein verwittertes Schild, das kaum mehr lesbar war und auf eine noch schmalere Geröllpiste deutete. Ein Wegweiser zu einem Dorf? Zu Menschen, die mir helfen konnten – oder vielleicht sogar dem Ort, den Papa gemeint hatte? Zwei gute Gründe, dem Schild zu folgen.
    Schon nach wenigen Metern hatte die eigentümliche Waldwelt Kalabriens mich verschluckt. Dicht standen die Bäume hier nicht, dazu war es zu felsig; nur die stärksten hatten ihre Wurzeln in dem kargen Grund verankern können. Ein schmaler Trampelpfad schlängelte sich hinauf auf eine gelbliche Wiese – frisches Grün fand sich hier kaum mehr –, auf der verlumpt wirkende Ziegen grasten. Vom Ziegenhirten war weit und breit nichts zu sehen. Vielleicht waren es sogar wild lebende Ziegen. Ich erfreute mich eine kurze Verschnaufpause lang an ihrer Gelassenheit und ihrem herben Geruch, dann lief ich weiter.
    Bei fast jedem meiner Schritte raschelte es neben der Geröllpiste im Gras; wahrscheinlich Schlangen oder größere Insekten. Das Zirpen der Grillen klang weniger sägend und laut als unten am Meer, doch es begleitete mich auch hier, für mich inzwischen die Musik der Stille. Als Lärm empfand ich es schon lange nicht mehr.
    Ich blieb schwer atmend stehen, als das besagte Dorf endlich vor mir auftauchte, wie die meisten Ortschaften an einen Hang geschmiegt, verschachtelt und ohne Abstand zwischen den Häusern, aber vollkommen verlassen. Ich sah es schon beim ersten Blick. Hier wohnte niemand mehr; es war ein Geisterdorf. Kein einziger Mensch atmete, nicht einmal Hunde und Katzen, es gab nur den Gesang der Zikaden und das Rauschen des Windes in den Tannen, die sich wie Mahnwachen hinter den Ruinen erhoben.
    Was mochte die Menschen dazu bewogen haben, ihr Zuhause zu verlassen? Was stimmte hier nicht? Waren sie ausgewandert, um ein besseres Leben zu suchen? Die Häuser sahen primitiv aus, manche sogar schäbig und heruntergekommen. Doch das allein konnte nicht der Grund gewesen sein. Dieses Dorf machte auf mich den Eindruck, als sei ihm schlagartig alles Leben entzogen worden. Nun wehrte es sich dagegen. Nichts bewegte sich mehr, keine Stimmen erhoben sich, keine Schritte hallten durch die engen Gassen, doch die Seelen der Menschen krallten sich noch in die verfallenden Mauern und weigerten sich zu gehen. Ängstliche, ruhelose Seelen.
    Wer hatte sie vertreiben wollen?
    Der Wind strich durch die Ritzen und Fugen des Hauses neben mir, in einem vielfachen, hohlen Gesang, der mir einen Schauder über die Arme rieseln und mich zugleich schläfrig werden ließ. Waren es die Mahre gewesen, die diesen Ort ausgelöscht hatten? Um ihn dann selbst zu besetzen? Waren sie über ihn hergefallen wie Heuschrecken, nachts, als alle schliefen, und die Menschen waren anschließend geflohen, ohne zu verstehen, warum?
    Mit leichten, schleichenden Schritten lief ich die einstige Hauptstraße entlang und der Kirche des Dorfes entgegen. Rechts von mir tauchte eine alte Metzgerei auf, »Macelleria« stand in verblassenden blauen Buchstaben auf der bröckelnden Wand. Die Fenster der meisten Häuser waren verrammelt, nicht mit Holz, sondern mit Metallplatten. Ein Versuch, sich vor den nächtlichen Eindringlingen zu schützen? Kein Mahr würde sich von Metallplatten abhalten lassen, doch irgendetwas mussten die Menschen gefürchtet haben.
    Vor der Kirche blieb ich stehen, um zu Atem zu kommen, denn die Luft kam mir dünn und sauerstoffarm vor, obwohl es hier in den Bergen viel kühler war als unten in unserer Straße. Das Meer konnte ich längst nicht mehr sehen. Kein Fixpunkt mehr. Nur dieses Dorf und seine Kirche, die darum bat, dass ich eintrat. Ihre verrottenden Orgelpfeifen klagten leise, als der Wind durch die Löcher im Dach fuhr und das Gras neben meinen Füßen zum Knistern brachte. Der Wind oder Schlangen.
    Ich ängstigte mich vor keinem von beiden und schritt zur Tür. Sie war tonnenschwer, ebenfalls mit Eisen beschlagen und armdick. Ich musste mich gegen sie stemmen, um sie öffnen zu können. Drinnen lag der Staub in Schlieren auf dem Steinboden. Bänke waren umgestoßen worden und teilweise

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