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Dornenkuss - Roman

Dornenkuss - Roman

Titel: Dornenkuss - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: script5
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sogar zerbrochen, als sei eine Armee in die Kirche eingefallen, um auch jene zu holen, die den Schutz Gottes gesucht hatten.
    Wieder tönte die Orgel, dieses Mal ein fast wohlklingender Akkord, traurig, aber auch ein wenig sehnsüchtig. Ich schaute zu ihr hoch. Die Empore war vollständig, obwohl die Stufen hinauf bereits zerbröckelten. Tiefe Risse zogen sich durch die Wände des gesamten Gebäudes, doch ich war leicht, was sollte ich ihm anhaben? Ich hielt mich nicht einmal fest, als ich nach oben kletterte, während die Stufen unter mir bedrohlich knirschten und Steinchen in dünnen Lawinen hinab auf den Kirchenboden rieselten.
    Die Orgelklaviatur schien noch intakt zu sein, auch die Pedale sahen unbeschädigt aus. Nur die Pfeifen hatten sich aus der Wand gelöst, ragten kreuz und quer in die Luft. Sie erinnerten mich an einen Dornenkranz. Ehrfurchtsvoll legte ich meine Hand auf die Tasten. Ob hier jemand gespielt hatte, als es geschah?
    Ich konnte nicht anders, ich musste sie hinunterdrücken, nur einen Akkord erklingen lassen, damit diese Mauern wieder neues Leben fanden und ich all die Seelen herbeilocken konnte, sie sollten sich mir zeigen und mir endlich sagen, was geschehen war … Wie ferngesteuert schlug ich meine gespreizten Finger auf die Tasten.
    Die Orgelpfeifen begannen augenblicklich zu schreien, tief und schrill zugleich, und der Boden unter mir gab nach. Kreischend zersplitterte das Holz, Felsbrocken polterten zu Boden, Staub überall, in meinen Haaren, meinen Augen und in meinem Mund. Ich schlug wild um mich, suchte nach Halt und fasste nur Luft, doch dann gelang es mir, mich im Sturz an einem Balken festzuhalten, leider nur mit einem Arm, den anderen brauchte ich, um mein Gleichgewicht auszutarieren, während ich meterhoch über dem harten Steinboden der Kirche baumelte. Ich versuchte, den linken Arm ebenfalls nach oben zu schwingen, um mich mit beiden Händen an den Balken zu klammern, doch als ich mich bewegte, gab er ein drohendes Knarzen von sich, als würde er sich in der nächsten Sekunde vollends lösen und mich in die Tiefe reißen. Wie lange konnte ich mich überhaupt noch halten, mit einer Hand, an einem morschen Stück Holz, das langsam hin- und herschwankte?
    In Filmen schafften die Helden das ja immer unfassbar lange, ob die Erde bebte oder ein Tyrannosaurus angriff, sie konnten sich noch dabei bewegen und Diskussionen führen, manchmal sogar küssen oder Liebesgeständnisse machen. Doch meine Kraft begann schon nach wenigen Sekunden zu schwinden. Meine schweißigen Finger rutschten Millimeter für Millimeter von dem spröden Holz ab. Gleich würde ich hinabstürzen …
    Ich nahm meinen Kopf in den Nacken und sah nach oben, vielleicht gab es dort etwas, was mehr Stabilität bot als dieser beschissene, wurmzerfressene Balken in meiner rechten Hand, doch die Sonne, die durch das Loch im Dach schien, blendete mich so unvermittelt, dass ich zurückzuckte. Meine Finger öffneten sich. Ich fiel.
    Ich fiel und landete zu meiner großen Überraschung weich und geborgen. Ein durchaus angenehmer Tod. So schnell ging das also? Man sah sein Leben gar nicht vor dem inneren Auge vorüberziehen? Kein grelles Licht? Nun, das grelle Licht hatte ich eben gesehen, genau genommen hatte es mich umgebracht, aber das hier …
    »Hoppla.« Ich hätte nichts dagegen gehabt, wenn er mich noch ein bisschen gehalten hätte, doch er setzte mich behutsam auf dem Boden ab und nahm seine Hände sofort wieder zu sich. Ein mustergültiger Gentleman. »Was war denn das für eine Aktion?«
    »Eine ziemlich dämliche, fürchte ich«, murmelte ich verlegen und keuchte auf, als ich meine Finger ausstreckte. Ein langer Holzsplitter hatte sich in den Ballen meines Daumens gebohrt. Mit einem gezielten Ruck entfernte ich ihn. Es blutete kaum.
    Ich konnte meine Freude, Angelo wiederzusehen, nicht verhehlen; mein Mund verzog sich von ganz allein zu einem atemlosen Lachen. Gleichzeitig saß mir der Schreck noch in den Knochen und Angelos plötzliche Rettungsaktion war mir auch ein wenig zu schicksalhaft, als dass sie mich nicht gewarnt hätte.
    »Danke«, sagte ich dennoch artig.
    Angelo schüttelte schmunzelnd den Kopf und legte ihn dann fast exakt in der gleichen Art und Weise schräg, wie Grischa es bei dem einen, einzigen Mal getan hatte, als er mich wahrgenommen hatte. Trotzdem war Grischa in diesem Moment weiter weg als all die vergangenen Jahre. Ein befreiendes Gefühl.
    »Ellie … was in Gottes Namen treibst du

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