Dornenkuss - Roman
gnadenlos sich die Wassermassen im Herbst und Frühjahr ihren Weg bahnten, Spuren von gewaltigen Erdrutschen zwischen den Bäumen, deren Wurzeln teilweise im Freien hingen und die Last des Stammes mit letzter Kraft hielten. Es sah aus, als habe hier ein Riese gewütet. Angelo erzählte, dass Dörfer wie Longobucco während des Winters oft eingeschneit würden. Es konnte bitterkalt werden hier oben. Auch jetzt war es spürbar kühler als zu dieser Tageszeit am Meer. Ich nahm den weichen, leichten Pulli, den Angelo mir reichte, dankbar an, um ihn über meine nackten Schultern zu legen, als wir in der Pizzeria Platz nahmen.
Angelo hatte nicht zu viel versprochen; die Pizza war ein Frontalangriff auf meine Geschmacksknospen, sie schienen vor Wonne zu explodieren, als ich hineinbiss. Mit der Serviette wischte ich mir einen Tropfen Olivenöl vom Kinn. Ich wusste, dass ich wieder starrte, aber es war mir unmöglich wegzuschauen, wenn Angelo die Pizza schnitt und sich die Stücke genießerisch in den Mund schob.
Jetzt ließ er die Gabel sinken. »Ellie, ich kann so nicht essen. Du machst mich nervös.«
»’schulligung«, mümmelte ich und schluckte. »Es ist nur so … ich … wie verdaust du die Pizza eigentlich?«, fragte ich wissbegierig. Ich musste das endlich erfahren. Colin hatte mich nie in die Geheimnisse seiner Verdauung einweihen wollen. Vielleicht tat es Angelo. Er brauchte keine menschliche Nahrung, also wie funktionierte das?
Angelo schluckte und schob den Teller ein Stückchen von sich weg. Ich hatte ihn in Verlegenheit gebracht. Nun sah er nicht mehr aus wie zwanzig, sondern wie maximal achtzehn.
»Ich würde mal sagen, nicht anders als ihr Menschen. Was reingeht, muss auch wieder raus, oder? Auf, ähm, normalem Wege. Bulimisch bin ich nicht. Oh mein Gott … Was erzähl ich hier?« Meine Fragerei war ihm sichtlich unangenehm. Ich errötete, und wenn er es gekonnt hätte, hätte er mir wahrscheinlich Konkurrenz gemacht. Trotzdem behielt er sein Lächeln. »Ich glaub, ich esse jetzt nichts mehr«, fügte er tadelnd hinzu. »Ich kann nicht essen, wenn du solche Fragen stellst.«
»Doch, iss!«, ermunterte ich ihn. »Bitte, iss. Ich gucke auch nicht mehr hin. Ich wundere mich nur darüber, dass du es überhaupt tust.«
»Ich esse gerne Pizza, was ist daran so außergewöhnlich?« Angelo nahm das Messer wieder in die Hand und sah die Pizza misstrauisch und zugleich sehnsüchtig an. Dann siegte der Appetit und er griff zu.
»Na ja, du brauchst sie nicht«, wandte ich ein. »Du brauchst gar kein Menschenessen. Es macht dich nicht satt!«
»Macht dich Schokolade satt? Isst du Schokolade, um dich zu ernähren? Was treibt dich dazu, Schokolade zu essen, bevor du ins Bett gehst, hm?«
Himmel, war die Salami scharf. Ich spülte einen großen Schluck Rotwein nach und schloss verzückt die Augen, als sich die Aromen miteinander vermischten.
»Woher weißt du, dass ich abends Schokolade esse?« Zu Hause hatte ich das tatsächlich getan.
»Ach, das machen doch alle Frauen!«, entgegnete Angelo schmunzelnd. »Ihr könnt gar nicht ohne Schokolade.«
Sagst ausgerechnet du, dachte ich mit stillem Vergnügen. Kinderschokolade auf dem Piano und dann den Frauenversteher raushängen lassen.
»Aha. Du kennst also so viele Frauen, dass du für ihre Allgemeinheit sprechen kannst?«, zog ich ihn auf.
»Nicht viele. Einige. Äh … na ja. Ich glaube, egal, was ich jetzt sage, ist falsch, oder?« Er grinste mich an wie ein Junge, der genau wusste, dass er Mist gebaut hatte. Sehr bezwingend, dieses Grinsen, und eine verdammt schwierige Basis für neue Wortgefechte. Oder vielleicht eine ausnehmend gute?
Wir alberten noch eine Weile herum, Andeutungen streuend und uns gegenseitig auf die Schippe nehmend, bis der Kellner uns zwei Ramazotti brachte und wir merkten, das die Nacht hereingebrochen war. Es war Angelo, aus dessen Gesicht mit einem Mal die Heiterkeit wich, und ich wusste, dass ich nun etwas hören würde, was mir nicht gefallen würde. Ob ich es hinauszögern konnte? Doch Angelo war schneller.
»Du, Ellie … oh verflucht, wie fang ich nur an …«
»Fang einfach an.« Ich trank den Ramazotti aus und stellte das Glas zur Seite, um ihm zu zeigen, dass ich bereit war, wofür auch immer.
»Hast du dir eigentlich noch nie überlegt, ob dein Vater vielleicht … ob er auf die andere Seite gewechselt ist?«
»Dass er – was?« Ich hatte nicht schreien wollen und mir fest vorgenommen, beherrscht zu bleiben,
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