Dornenkuss - Roman
der Zungenspitze meine Lippen. Bleib ruhig, Ellie, redete ich mir zu. Ruhig atmen. Es ist gut gegangen. Du hast ihn nicht verraten. Und wenn, wäre er stärker als Angelo.
»Er ist halt schon lange auf der Welt«, versuchte ich seine Beweggründe zu erklären, ohne zu viel preiszugeben. Tja, so lange nun auch wieder nicht. Nicht so lange wie Angelo. »Es ist auch für mich nicht erstrebenswert, ewig zu leben.« Warum fühlte es sich dann so an, als würde ich flunkern?
»Ja, ich weiß, das ist so eine menschliche Grundhaltung. Durchaus verständlich. Wir können die Unsterblichkeit nicht haben, also wollen wir sie nicht. Wenn man altert, ist es auch keine schöne Sache, das gebe ich zu.«
»Wieso denn das? Das Alter ist doch etwas Positives, man gewinnt an Erfahrung und Reife und … äh … ja.« Ups. Ich hatte nicht geahnt, dass meine Erörterung des menschlichen Alterns bereits nach diesen zwei Argumenten den Bach hinuntergehen würde. Note sechs, setzen.
»Und was noch? Krampfadern, Rheuma, Hämorriden, Falten, Schlafstörungen, Verstopfung, Impotenz …«
»Ist ja gut, hör auf, ich hab es verstanden!«, wehrte ich ab. »Aber das Alter besteht doch nicht nur aus Krankheiten!«
»Ich finde deine Haltung zu diesem Thema nobel und du hast ja auch recht, es macht Sinn, Erfahrungen zu sammeln, sich weiterzubilden und Reife zu erlangen. Nichts ist schwerer zu ertragen als naive, unreife Gören. Ich meine nicht dich damit, du bist keine Göre!«, setzte Angelo hinterher, da ich ihn streng anfunkelte. »Und naiv schon gar nicht. Aber all das, was ich eben aufgezählt habe, kann ich ja tun. Ich bin gebildeter als die meisten Männer meines Alters, ich habe schon viel erlebt und gesehen. Ich würde mich nicht als weise bezeichnen und reif bin ich wahrscheinlich auch nicht, aber vielleicht werde ich es mit den Jahren … Wie gesagt, Zeit habe ich.«
Hm. Das Altern war eine schreckliche Sache? Tatsächlich? Wann würde ich anfangen zu altern? Geschah es vielleicht schon? Mit Argusaugen schielte ich auf meine Oberschenkel. Noch waren sie dellenfrei und schlank, aber hatte ich neulich im Umkleidekabinenspiegel bei H&M nicht dieses winzige dunkelrote Adergeflecht entdeckt, links neben meiner Kniekehle, nun dank der Bräune meiner Haut kaum mehr zu erkennen? Aber es war da und er würde auch nicht wieder verschwinden. Ein Besenreiser. Mein erster. Ein verbotenes Wort, fand ich. Es klang so hässlich, wie das aussah, was es bezeichnete.
»Das Alter ist Zerfall«, fuhr Angelo fort. »Der Geist bleibt mit etwas Glück wach und rege, aber der Körper zerfällt. Natürlich würde es keinen Spaß machen, unsterblich zu sein, wenn man dabei immer weiter altert. Das wäre ein Fluch. Alles wird von Jahr zu Jahr beschwerlicher und anstrengender, du fühlst dich nicht mehr wohl in deinem Körper, weil er nur noch schmerzt und dich plagt, doch du kannst ihm nicht entkommen …« Angelo schüttelte sich kurz. »Nein, das will niemand, da gebe ich dir recht. Aber das, was mich heute am Altern am meisten stört, ist, wozu es die Menschen antreibt. Manchmal kommt es mir so vor, als wäre euer ganzes Dasein darauf ausgerichtet, dass ihr im Alter noch genug Geld habt. Aber wozu, frage ich mich? Schau dir allein die Werbung für Versicherungen an, eine einzige Angstmacherei, auf jedem Kanal im Minutentakt; ständig droht ihr euch mit Tod, Unfällen und Krankheit. Ihr besucht die Schule, geht arbeiten, knechtet euch jahrzehntelang – und wofür? Damit ihr etwas fürs Altersheim beiseitelegen konntet, wo ihr allein und vergessen vor euch hin vegetiert. Die Weisheit der Alten weiß doch niemand mehr zu schätzen. Früher, als es noch Großfamilien gab und alle zusammenhielten, sich umeinander kümmerten, sah das anders aus. Aber heute alt werden? Glaub mir, Ellie, es gibt Schöneres. Hab ich dir jetzt Angst eingejagt?«
»Hm. Keine Ahnung. Angst nicht, aber ich freu mich auch nicht drauf.« Ich hatte die ganze Sache noch nie aus Angelos Sicht betrachtet. Es war kaum etwas dagegen einzuwenden. »Trotzdem, es muss einen Sinn haben, dass wir alt werden und sterben …«
»Das hat es ja auch. Die meisten Menschen sind nicht für die Unsterblichkeit geboren, sie brauchen dieses Getriebensein, weil sie nicht mit sich im Reinen sind oder sich selbst schnell langweilig werden. Für sie wäre die Ewigkeit eine Strafe. Ich halte hier kein Plädoyer für die Unsterblichkeit, ich versuche nur zu erklären, warum ich mich dafür entschieden
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